Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
Vom Netzwerk:
meiner ausgewaschenen Trainingsjacke, in der ein Körper steckt, der kein Parfum und keine Schminke trägt und sich außerordentlich underdressed fühlt.
    Wir gehen gemeinsam über das Gelände der Klinik bis zur U-Bahnstation. Auf dem Weg haben sich erste Grüppchen gebildet, Gruppen, die auch im Klinikalltag immer zusammen sind. Thorsten und Hermann bilden das Schlusslicht. Vor ihnen läuft Simon, die Hände in den Taschen, den Blick zum Boden, schlurfend und missmutig, einem bockigen Kind gleich. Vor ihm laufen Andrea und Marie, die sich angeregt unterhalten und immer wieder so laut auflachen, dass ich jedes Mal zusammenzucke. Hermann und Thorsten lachen wie der begleitende Chor, während sie sich gegenseitig Dinge auf ihren Mobiltelefonen zeigen. Der Rest der Gruppe läuft schweigend.
    Ich gehe neben Isabell, die heute noch schöner ist als üblich. Sie hat ihre Haare zu einem strengen Knoten gebunden und trägt einen dramatischen Lidstrich, tiefschwarze Wimpern und einen sehr roten Lippenstift. Ansonsten ist sie völlig in Schwarz gekleidet und sieht aus wie jemand, von dem man denken soll, er führe eine Arbeit aus, die äußerste Ernsthaftigkeit, Belesenheit und Intelligenz fordert. Sie sieht aus wie jemand, der sie sein will.
    Gräfling und Weimers kaufen die Fahrkarten, während die Gruppe gelangweilt auf dem Bahnsteig wartet und eine U-Bahn nach der anderen verpasst, weil die Automaten immer wieder das Geld ausspucken. Schließlich können wir endlich in die Bahn einsteigen und drängeln uns zwischen schwitzende Männer und parfümierte Frauen, zwischen kleine Kinder und betrunkene Teenager, zwischen Anzüge und Turnschuhe.
    Fünf Stationen bis zur Zielhaltestelle. Achtzehn Minuten Fahrzeit. Ich stehe dicht gedrängt zwischen Isabell und Marie, die schnell atmet und auf deren Stirn sich große Schweißperlen gebildet haben. Es ist warm in der U-Bahn, aber noch aufheizender können Gedanken über Panik und Aushalten, über Flucht und Angst sein. Marie wird immer blasser im Gesicht und murmelt unablässig: » Oh Mann. Oh Mann. Oh Gott.« Auch Isabell ist darauf aufmerksam geworden und spricht sie an. Marie stöhnt, und ihre Hände greifen nach Isabells Arm. » Panik«, sagt sie und presst ihren Kiefer zusammen. Isabell redet beruhigend auf sie ein, während ich den Blick abwende und die Werbeanzeigen in den Fenstern der U-Bahn studiere.
    » Bewerben Sie sich jetzt!« steht da und » Jetzt Umschulung!« und » Ein neues Leben durch Meditation und Klangschalen«. Ein neues Leben, eines, in dem ich nicht mit zwanzig Menschen, die zurzeit hauptberuflich Patient sind, in einer U-Bahn stehe, um mit ihnen als Therapiemaßnahme einen Kaffee trinken zu gehen. Ein neues Leben, in dem das Jetzt Vergangenheit, in dem Maries schwerer Atem und das Brüllen der Gräfin nur ferne Erinnerungen sind, die manchmal aufpoppen– wie Pop-ups, die man sofort wieder wegklicken kann. Ein Leben ohne Medikamente, ohne quietschende Latexmatratzen und Basteln für Erwachsene, das hier Ergotherapie heißt. Eines, in dem Ida Schaumann morgens aufsteht und zu einer Arbeit, einer Beschäftigung, einem Studium fährt. Eines, das nicht auffällt in der U-Bahn, das sich nicht hierherbegeben hat, an diesen Punkt, der inmitten all dieser Menschen liegt und sie doch nicht berührt. Eine Umschulung will ich machen, eine zur gesunden Ida, eine mit der Weiterqualifizierung » Wohnung in Ordnung halten« und » Rechnungen bezahlen« und » Freunde und Beziehung haben«. Eine Weiterbildung des Geistes, des Kopfes, des Ichs im Zentrum des Chaos. Bitte geben Sie mir doch die Telefonnummer für diese Art von Weiterbildung.
    Nach der dritten Station steigen einige der anderen Fahrgäste aus, und wir können uns endlich setzen. Isabell lässt sich neben mir auf den freien Platz am Gang fallen, und Marie nimmt uns gegenüber Platz. Hinter mir lacht jemand laut auf und ruft: » Ja, verticken sollten wir das Zeug!« Es ist Florian, der sich scheinbar in einem Gespräch mit Walter darüber befindet, wie viel Geld man aus den Medikamenten herausholen könnte, würde man sie einfach an Süchtige verkaufen. Einige Fahrgäste starren die beiden neugierig und mit einem Erstaunen im Gesicht an, das verrät, dass sie gerade beginnen zu begreifen, woher diese beiden Männer kommen und worüber sie da eigentlich gerade sprechen. Einen Sitz weiter, mit dem Rücken zu mir, flüstert eine ältere Frau mit einem Nicken auf Walter ihrer Begleiterin zu: » Den kenne ich doch

Weitere Kostenlose Bücher