Drüberleben
Wasser trinken sollen, dass wir darüber reden müssen, dass wir etwas unternehmen können und dass alles in unseren Händen liegt, auch wenn die Hände auf der Bettdecke liegen, unter der wir uns seit Wochen verstecken. Wir lernen, dass es da noch andere gibt, dass es da noch ganz viele gibt und dass wir das hinkriegen können, kein Schicksal, keine Bestimmung, nur ein bisschen Serotonin, das fehlt.
Am meisten lernen wir jedoch in all diesen Wochen, dass wir einander haben, dass das Kopfkino keine Privatvorstellungen spielt, sondern einen Blockbuster, den Millionen andere auch zu sehen bekommen. Dass wir trotzdem jedes Mal in der ersten Reihe sitzen, mit zittrigen Händen und tränenden Augen, bleibt eine Tatsache, die uns auch keine Gruppe, kein Weimers und keine Wängler nehmen können, die aber erträglicher wird in dem Wissen, damit nicht allein sein zu müssen.
Isabell schleppt sich in den Tagen durch die Gänge, wird teilnahmsloser, stiller und zieht sich immer öfter zu Nina zurück, die froh darüber ist, dass Iris entlassen wurde, und sich nun ihr Zimmer mit einer älteren Frau teilt, die die meiste Zeit schläft, während Isabell und sie sich flüsternd unterhalten. Manchmal sehe ich die beiden zusammen im Park, aber seit Isabells Geständnis weichen sich unsere Blicke aus wie zwei gleichgepolte Magnete, die sofort voneinander abprallen, wenn sie sich zu nahe kommen. Wir sprechen die meiste Zeit über Belanglosigkeiten, über all die Dinge, die uns im Grunde völlig egal sind.
Ich verbringe viel Zeit allein und mit Büchern, deren Inhalt mir plötzlich nicht mehr verständlich ist und deren Buchstaben vor mir gewaltige Tänze aufführen, bis sie zu einer homogenen schwarzen Masse verschwimmen und meine müden Augen sich weigern, sie noch auseinanderzuhalten. Die Einsamkeit schärft meinen Blick jedoch für die stillen Momente, für jene, die im lauten Draußen die meiste Zeit einfach zwischen hektisch beantworteten E-Mails und fahrigen Bewegungen verschwanden, die ich nicht mehr sehen konnte in all den Cafés und Bars und an all den Tischen mit Menschen, die redeten und sich stritten und redeten und sich wieder vertrugen und redeten, redeten, redeten.
Die Tabletten machen müde, und das soll auch so sein, denn obschon sich die Schwere der Erschöpfung über mich gelegt hatte, fand ich keine Ruhe, fand all die Wochen und Monate keinen erholsamen Schlaf, der nicht Koma, sondern Ruhe war, nicht Ersatz, sondern Bedürfnis. Wängler zeigt sich zufrieden mit meinen Fortschritten, lächelt noch immer zweimal die Woche und freut sich auf den Tag, an dem ich endlich alle Türen aufmachen werde, an dem ich alles auf den Tisch kotzen werde, an dem ich schreie, weine, zerberste und blute, an dem sie endlich versteht, warum ich hier bin und warum Ida Schaumann sich nicht in der Lage sieht, dieses Gelände zu verlassen.
Denn noch immer weigere ich mich standhaft, auch nur einen Schritt weiter als in den Park zu gehen. Zu feindlich erscheint mir alles, was außerhalb dieser Mauern passiert, und zu fragil erscheint mir die winzige, beinahe mikroskopisch kleine Erholung, die ich langsam zu spüren beginne. Die ständige Trägheit, die zwar neben der Müdigkeit existiert, aber nicht das Gleiche ist, verkriecht sich mit jedem Tag mehr und scheint bald ganz verschwunden, wenn, ja wenn ich mich nur lange genug schütze, mit diesem Panzer aus Apathie und Angst.
Manchmal erinnere ich mich an dieses Leben, das ich geführt habe, wie an einen Traum, der sich erschreckend real anfühlt, der sich aber wie so vieles verflüchtigt in den Realitäten der Umstände. Manchmal erinnere ich mich daran, dass ich studiert habe, dass ich Dinge versucht habe, dass ich geküsst und gearbeitet, getrunken und eingekauft habe, dass ich es tatsächlich all die Jahre geschafft habe, ein Mensch zu sein, der existiert und lebt und atmet und funktioniert. Diese Erinnerungen sind Erinnerungen an eine fremde Ida, an eine, die ich nicht mehr sein kann und nicht mehr bin und vielleicht gar nicht gewesen bin, denn so oft glauben wir uns ja alles Mögliche und Unmögliche, wenn wir nur weit genug zurückblicken und das alles hübsch färben mit dem Wissen, das wir heute haben, und dann lässt sich das auch ganz gut tragen, so eine Erinnerung, und ertragen lässt sie sich dann auch, wenn man nicht dumm, sondern jung war, und wenn man nicht naiv, sondern abenteuerlustig war, und wenn man nicht verrückt, sondern besonders war.
Zwanzig
E s ist Mittwoch,
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