Drüberleben
macht. Wir alle wussten irgendwann nicht mehr, wie das gehen soll, wussten nicht mehr, wie wir den Sack die Treppe hinunterbekommen und wie wir jemals wieder in einem Büro lächeln sollten. Und doch: Äußerlich haben wir uns kaum unterschieden. Niemand hat geschrien, dass er Jesus sei, keiner von uns hat sich das Gesicht zerschnitten oder versucht, sich öffentlich zu verbrennen. Wir alle haben uns die meiste Zeit benommen, so sehr benommen, wie es jeder andere auch getan hat. Wir sind nicht aufgefallen. Wir saßen immer mittendrin, die ganze Zeit. Ohne Brandmal, ohne Tropf und ohne das geringste Zeichen von Widerstand.
Die anderen leeren nach und nach ihre Getränke, und Frau Gräfling beschließt, dass es nun an der Zeit sei zurückzufahren. Aufbruchstimmung breitet sich aus, und nur mühsam erhebe ich mich von meinem Platz.
Einem plötzlichen Bedürfnis folgend frage ich die Gräfin, die gerade ihre Tasche als eine der letzten packt, ob es möglich sei, noch eine Weile hierzubleiben. Sie erwidert, dass das kein Problem sei– Pflanzen bräuchten ja auch manchmal ein bisschen Sonnenlicht– und erinnert mich daran, spätestens um acht zur Medikamentenausgabe wieder zurück zu sein. Ich versichere ihr, dass ich da sein werde, und sie verlässt mit einem Augenzwinkern, das ich nicht deuten kann, das Café.
Und mit einem Mal bin ich tatsächlich allein. Bin allein, wie ich es sein wollte, und weiß trotzdem nicht, was ich jetzt mit mir und dem Gefühl, keinerlei Ziel möglicher Handlungen ausmachen zu können, anfangen soll. Ich entscheide mich schließlich dafür, einfach sitzen zu bleiben, einzuatmen und auszuatmen und dieses so schnell unbekannt gewordene Wesen » Freiheit« zu erforschen, wieder neu zu entdecken. Das Café füllt sich zunehmend mit Gästen, denen die Temperatur draußen zu sehr gesunken ist. Auch die Mütter suchen sich jetzt Plätze in der Nähe, und das Geschrei der Kinder erhöht den Lärmpegel der Umgebung um ein Vielfaches.
An den Tisch, der sich rechts von mir befindet, setzen sich zwei junge Mädchen, die sich anscheinend lange nicht gesehen haben. Sie reden über die vergangenen Monate, und ich komme nicht umhin, ihnen zuzuhören, und muss mich beherrschen, nicht hinzusehen, wenn eines der Mädchen ausruft: » Das musst du dir angucken, hier, ich hab’s auf dem Handy, es war so unglaublich!«
Ich schließe die Augen und lasse mich in diesen lebenden Klangkörper aus Menschen und Stimmen und Geschrei und Geheule und Telefonklingeln fallen, sauge alles auf, um es mitzunehmen in mein Vakuum, das Abspielgerät im Kopf.
Erst das Wort » Therapie« lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Einen Moment lang fühle ich mich ertappt, so, als hätte mir jemand auf die Schulter getippt und gesagt, dass ich doch das Mädchen sei, das…
Es sind aber bloß die beiden anderen Mädchen, die jetzt das Thema gewechselt haben und sich über die Therapie der Blonden unterhalten.
» Und dann hat sie gesagt, dass ich wahrscheinlich gar keine Beziehung will und deshalb die Männer von vorneherein so manipuliere, dass sie mich verlassen müssen, stell dir das mal vor. Die spinnt doch!«, sagt sie aufgebracht und wirft ihre langen, blonden Haare in den Nacken. Sie sieht nicht wie jemand aus, der verlassen wird.
» Total«, pflichtet ihr die andere bei und schaut verständnislos. Als die beiden meinen Blick bemerken, werden sie leiser und führen flüsternd ihr Gespräch fort. Ich lächle. Es ist das Lächeln eines Menschen, der eine Wahrheit erst vor Kurzem erkannt, sie aber jetzt, jetzt in diesem Augenblick, endgültig begriffen hat.
Es ist überall. Es ist in den Köpfen dieser Mädchen und bestimmt auch im Kopf des jungen Vaters dort drüben. Es ist im Kopf des Studenten, der sich gequält die Augen reibt, und es ist in den Köpfen der Passanten, die vor dem Fenster vorübergehen. Und trotzdem oder gerade deshalb ist es unsichtbar. Es tarnt sich in abwinkenden Gesten, nicht so schlimm, das wird schon wieder, in heimlich getrunkenen Flaschen Rotwein und eilig geschriebenen Blogbeiträgen anonymer Menschen. Es tarnt sich als Melancholie, als Phase, als etwas, das manchmal vorübergeht und manchmal eben nicht. Es macht nicht Halt vor Anzügen oder Bildung, nicht vor Familienglück und nicht vor Bankkonten. Es kann jederzeit und überall sein, und es gehört in die Mitte dieses Cafés, in die Mitte dieser Stadt, in die Köpfe aller. Und egal, wie laut das Schweigen darüber ist: Das Wissen darum
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