Drüberleben
und mit düsterem Blick den Tisch anstarrt. Marie hat sich endlich gefangen und lässt polternde Worte in die Runde fallen, erzählt wie üblich von Freundinnen und Männern und lässt jedes Klischee genüsslich auf ihrer Zunge zergehen, als sei es eines der vielen Bonbons, die sie immerfort mit sich herumträgt. Richard hat sich neben mich gesetzt und schweigt. Wie verwandelt sitzt er in sich zusammengesunken am Tisch und starrt in seinen Tee, der vom ganzen Pusten mittlerweile weit unter der Zimmertemperatur sein dürfte. Miriam betrachtet die Wand über dem Tisch nebenan, an der die Besitzer Bilder großer Schauspieler angebracht haben. Sie zittert unmerklich und beißt auf ihre Lippe, als müsse sie den Drang unterdrücken, laut zu schreien. Tanja, die neben ihr sitzt, sieht aus dem Fenster zu den Tischen vor dem Café, an denen einige junge Mütter gerade Platz nehmen, während die Kinder um ihre Beine toben. Ein wirklich gelungener Ausflug.
Die Gräfin unterhält sich angeregt mit Herrn Weimers, der dankbar ihr scheues Lachen annimmt, das sie seinen Witzen schenkt. Einzig die beiden scheinen sich zu amüsieren, was zumindest bei der Gräfin ein seltener Anblick ist.
Nach und nach beginnen auch zwischen den anderen die ersten zögerlichen Unterhaltungen, die sich wie üblich um die Themen Depression, Angst und Medikamente drehen. Es kommt einem Gespräch unter Arbeitskollegen gleich, die selbst bei einem Ausflug nur über die Branche, die Aufgaben und den Chef sprechen– insofern er nicht, wie in diesem Fall, mit am Tisch sitzt. Auch die Gruppe unterhält sich über das Naheliegende, über das, was sie verbindet, den kleinsten gemeinsamen Nenner: das geteilte Leid.
Walter und Florian sind nicht über das Spekulieren auf Gewinn durch die Einnahmen aus Medikamentenverkäufen hinweggekommen und erweitern das Thema einzig um eine laienhafte und klischeebeladene Abhandlung darüber, wie » schmutzig« und » geldgierig« Pharmakonzerne seien und wie ekelhaft, geradezu obszön sie ihre Geschäfte unter den wenig wachsamen Augen der Regierung, denen » da oben«, führen dürften.
Marie redet auf Tanja ein und spricht von großem Verständnis für die Schwierigkeiten der Kindererziehung, während Tanja nur weiterhin aus dem Fenster blickt, einen Schleier vor den Augen.
Isabell lehnt sich zu mir herüber: » Was ist denn los mit dir?«, und auf meinen fragenden Blick hin: » Du sagst überhaupt nichts.«
» Sollen wir uns auch über Krankheiten und Leid unterhalten? Nimm dir eine Zeitung, da steht genug ekelhaftes Zeug drin«, gifte ich unangemessen und entschuldige mich sofort.
Isabell zuckt mit den Schultern und verwickelt Nina mit einem wütenden Seitenblick auf mich in ein Gespräch.
Ich sitze allein zwischen den Stühlen, zwischen zwei Welten: zwischen der, an deren Tisch ich einen Kaffee trinke, deren Realität ich aber nicht über die meine legen kann, ohne dass sich ein Zerrbild ergibt, das in mir Schwindel und Übelkeit hervorruft, und der Welt da draußen vor den Fenstern, in der junge Mütter über ihren Alltag sprechen, alte Männer die Zeitung lesen und ein müde wirkender junger Mann auf seinen Laptop starrt.
Würde ich aufstehen und mich einfach an einen kleinen Tisch in der Nähe setzen, würde ich vielleicht noch ein Buch herausholen und darin lesen, gelegentlich der Kellnerin winken und dann und wann zum Rauchen vor die Tür gehen– niemand würde den Unterschied bemerken. Natürlich ist noch immer keine Wunde an meinem Kopf. Natürlich trage ich noch immer keine Schläuche mit mir herum, die mein Gehirn mit Serotonin und Dopamin versorgen, die von Krankheit und Traurigkeit und nicht enden wollenden Nächten sprechen. Niemand würde den Unterscheid bemerken, das ist eine Wahrheit, die in Momenten wie diesen schmerzhaft deutlich das Licht der Welt erblickt, die meinen Kopf durchflutet.
Wir alle befinden uns in einem Vakuum, in dem wir nicht atmen, in dem wir uns kaum bewegen, in dem wir nur um uns selbst kreisen. In diesem Vakuum kennen wir uns aus, hier sind wir zu Hause, bitte kommen Sie doch herein. Auf der Station ist nichts peinlich, bleibt wenig verborgen, bleibt am Ende höchstens etwas, das zwar zwischen uns, jedoch meistens nicht zwischen Therapeut und Patient unausgesprochen bleibt. Wir alle haben uns in der Normalität da draußen fremd gefühlt, in dem, was wir für normal hielten, in dieser Nine-to-Five- Welt, in der man seinen Müll runterbringt und am Wochenende Ausflüge
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