Drüberleben
und Mittwoch bedeutet, dass heute mal wieder eine Gruppenaktivität stattfinden soll, dass sich heute alle an den Händen nehmen, sich in Zweierreihen aufstellen und zu einer Sehenswürdigkeit, zu einem Schwimmbad oder etwas ähnlich Ausflugskompatiblem wandern oder fahren oder kriechen.
Wir treffen uns im Gruppenraum der Station 1. Nachdem sich alle gesetzt haben, erhebt Weimers die Stimme und bittet » die Herrschaften« um Ruhe, bittet ganz dringend darum, jetzt endlich einmal aufmerksam zu sein, es ginge ja schließlich um unser » Vergnügen«, nicht wahr, und jetzt alle mal Aufmerksamkeit, Achtung, fertig, los. Die Gruppe verstummt nur langsam, und schlussendlich ist es die Gräfin, die mit ihrer donnernden Stimme vollends für Ruhe sorgt.
» Liebe Patienten«, beginnt sie, » Sie wissen ja, dass es heute wieder Zeit für eine Aktivität ist. Daher sammeln wir wie immer Vorschläge, wohin es heute gehen könnte und wer wozu Lust hat. Und bitte.«
Zaghaft hebt schließlich Tanja den Arm und sagt: » Ich würde es schön finden, wenn wir in das neue Museum gehen würden. Da läuft auch gerade diese Ausstellung…«
Sie wird von genervtem Stöhnen unterbrochen, und jemand zischt » langweilig« aus einer Ecke. Frau Gräfling wirft ein paar mahnende Blicke in den Raum und notiert dann wie zum Trotz am Flipchart » Museumsbesuch«.
Jetzt meldet sich Richard: » Ja, also ich will nicht ins Museum, also es ist gar nicht, weil ich das nicht mag, ich finde das sogar total toll, ja, ich finde das toll, das habe ich schon als Kind gemocht, da kann man jeden fragen, also ich finde das toll, wirklich, aber ich kann da nicht hin, weil ich, na ja, also ich werde da immer rausgeworfen, werde ich da, ich meine, ich werde freundlich hinausgebeten, weil ich doch, also, weil ich doch dauernd zu viel rede, und das stört die Menschen da wohl, also ich weiß auch nicht, warum die da immer gleich so aggressiv reagieren, wenn man die mal anspricht und ein bisschen über Kunst reden will, also versteht ihr das, ich nicht, ich verstehe das nicht, ist doch schließlich ein Museum voller Kunst, da kann man doch wohl mal über Kunst sprechen, aber ich darf das wohl nicht, darf ich wohl nicht, also ich wollte bloß mal sagen, dass ich da immer rausgeworfen werde und dass das deshalb eine ganz schlechte Idee ist, also für mich.«
Ein paar Patienten lachen leise, während Frau Gräfling verständnisvoll nickt und Tanja leise neben mir » dann halt doch mal die Fresse« sagt.
Als Nächstes schlägt Isabell vor, einen Ausflug an den Fluss zu machen, man könne sich dort hinsetzen und ein paar Getränke zu sich nehmen, das wäre doch eine schöne Sache, drinnen säßen wir doch alle schon genug.
Der Vorschlag wird dankbar angenommen, nur Hermann und Thorsten schütteln vehement die Köpfe und legen lautstark Widerspruch ein: » Nee, nee, nee, also ich laufe nicht diesen elendig langen Feldweg bis zu diesen Sitzbänken da!«, schnaubt Thorsten, und Hermann ergänzt: » Ganz ehrlich: Schon mal nach draußen geguckt? Da ist Alaska, es ist Winter!« Er hustet, und Unmut macht sich breit.
Herr Weimers hat jetzt genug und ergreift das Wort. » So, Freunde, also wenn das hier so weitergeht, dann müssen wir uns ernsthaft überlegen, welchen Sinn diese Aktivitäten noch haben. Bestimmt soll hier keiner zu etwas gezwungen werden, das über seine oder ihre Belastungsgrenze hinausgeht, aber es kann nicht angehen, dass ihr euch wie die Wilden benehmt, sage ich mal, und Radau bei jedem Vorschlag macht. Am Ende läuft das dann wie letztes Mal, und die Praktikantin aus der Ergotherapie muss wieder mit euch Spiele spielen. Wollt ihr das? Ist es das, was ihr wollt?«
Kleinlautes Murmeln und ein paar sich schüttelnde Köpfe. Es werden weitere Vorschläge gemacht, die nicht viel Anklang finden, bis schließlich Frau Gräfling die Abstimmung beendet und ein Machtwort spricht: » Wir werden in das Café gehen, in dem wir schon einige Male waren. Das wird ja hoffentlich niemandem zu viel sein. Wir treffen uns heute Nachmittag um fünfzehn Uhr hier. Und ab.«
Um Viertel nach drei treffen die letzten Patienten im Gruppenraum ein. Alle haben sich verändert, haben ihre Trainingshosen gegen Jeans, ihre Sweatshirts gegen Hemden oder Kleider getauscht. Die Frauen sind plötzlich geschminkt, und der ganze Raum ist in billiges Parfum, noch billigeres Aftershave und ein wenig Angstschweiß getränkt. Ich atme durch den Mund und zupfe verlegen an den Ärmeln
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