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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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aus der Zeitung!« Die beiden tuscheln mit vorgehaltenen Händen, während Walter und Florian unbeirrt weiter ihre Späße machen.
    Nina, die ein paar Plätze weiter sitzt, kaut unablässig an ihren Fingernägeln und bemerkt nicht, wie zwei Jugendliche sie anstarren. Einer der beiden jungen Männer beugt sich schließlich zu ihr herüber, und ich kann sehen, wie sich ihr Gesicht verfinstert und sie mit einem Mal laut sagt: » Du Arschloch, verpiss dich!« Alle Köpfe im Abteil drehen sich zu den beiden um, und während der Junge sich beschämt abwendet, erhebt sich Nina und baut sich vor ihm auf. » Weißt du, was ich nicht leiden kann?«, fragt sie. » So Typen wie dich, die denken, Sie könnten einfach jede Frau anbaggern mit den immer gleichen Sprüchen und den immer gleichen Anmachen. Ich hasse das! Ich gebe dir jetzt mal einen guten Rat: Wenn du das nächste Mal eine Frau auf so eine obszöne und ekelhafte Art und Weise ansprichst, dann denk an mich, denn wenn ich das mitkriegen sollte, dann reiß ich dir die Eier ab, du kleiner Wichser!«
    Es ist sehr still geworden im Abteil. Der Junge wendet sich ab und zeigt seinem Freund einen Vogel. Nina zittert am ganzen Körper und setzt sich mit rotem Gesicht wieder auf ihren Platz zurück. Frau Gräfling drängt sich an uns vorbei, und die beiden beginnen flüsternd eine Auseinandersetzung, in der es– den wenigen Worten nach, die zu verstehen sind– darum geht, dass ein solches Verhalten nicht duldbar ist und dass Nina für ihren Ausbruch verwarnt wird.
    Isabell stößt mir den Ellbogen in die Seite und grinst. Ich zucke mit den Schultern und schaue weiter aus dem Fenster, dem Wunsch nachhängend, jetzt, jetzt sofort, unsichtbar zu sein. Ein Schmerz durchfährt meine Stirn, und ich lehne meinen müden Kopf gegen die zerkratzte Fensterscheibe. Isabell fragt mich, was denn los sei, aber ich schüttle nur den Kopf.
    Das Problem ist nicht, dass etwas los ist, sondern dass zu viele Dinge und die falschen Dinge los sind. Dinge, von denen ich nie eine Ahnung haben wollte. Szenen wie die vorangegangene, Szenen in U-Bahnen mit Menschen, für die ich mich schäme. Menschen, die das Verhältnis verloren haben, dieses sensible Gleichgewicht zwischen noch angebracht und schon übertrieben. Szenen, in denen ich einen Ausflug machen muss, dessen Inhalt einzig darin begründet liegt, eine Art Beschäftigungstherapie für gelangweilte Depressive zu sein. Die anderen helfen soll, sich wieder zu sozialisieren, wieder Anschluss zu finden.
    Wir alle teilen uns eine Etage, teilen uns Zimmer und teilen uns Worte, benutzen die gleichen Codes, aber deren Dechiffrierung hat ein völlig anderes Ergebnis. Wir glauben, dass wir uns ein Zuhause zwischen den Felsen unserer verlassenen, inneren Landschaften teilen. Aber am Ende stehen all diese Häuser auf unterschiedlichem Boden, ja, sogar auf unterschiedlichen Planeten. Wir sind keine Gruppe, wir sind nur Zufall.
    Das Café liegt in einer kleinen Seitenstraße. Die Besitzer haben bunte Schirme vor den Eingang platziert und Bänke und Holztische bereitgestellt, auf denen bereits zahlreiche Gäste in der Nachmittagssonne sitzen. Frau Gräfling entscheidet, dass wir uns in das Café setzen, sowohl aus platzökonomischen Gründen als auch deshalb, weil es jetzt, mitten im Oktober, trotz der mittäglichen Sonne schon winterlich geworden ist. Wir verteilen uns an drei große Tische, und zwei Kellnerinnen nehmen Bestellung um Bestellung auf, jeder darf etwas sagen, heute gibt es alles umsonst, auf Rechnung der Krankenkasse. Das hier ist schließlich kein Spaß, keine Freizeit, kein Vergnügen, sondern eine Aktivität mit Grund, mit Sinn und Verstand. Wir sollen das echte Leben, das da draußen, nicht vergessen, sollen uns erinnern, dass es da auch noch ein paar Kleinigkeiten neben Diagnosen und Problemen gibt, diese Kleinigkeiten wie Cafés und Museen und Beziehungen und Lachen, und über etwas anderes reden als das jeweilige Befinden.
    Nachdem die Kellnerinnen alle Getränke gebracht haben, sitzen wir unbeholfen auf unseren Stühlen und überlegen, was es zu sagen gibt in dieser plötzlichen verlegenen Stille zwischen uns, denn in so einem Café unterhält man sich schließlich. Gäbe es keine Musik, die ständig und immerzu im Hintergrund dieser Etablissements läuft, so wäre dieser Moment der Wortfindung kaum zu ertragen.
    Isabell rührt in ihrem Milchkaffee und seufzt ab und zu nachdenklich, während Nina neben ihr das Wasserglas fest umklammert

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