Drüberleben
Fenstern, dann hat all das nicht viel gebracht.«
» Das habe ich begriffen, danke.«
» Wann ist es so weit?«
» Nächste Woche.«
» Oh.«
Sie schweigt.
Fünf Wochen, so lange bin ich bereits hier, und der Gedanke, dass Isabell entlassen werden könnte, bereitet mir trotz ihrer zudringlichen und von wechselnden Launen durchdrungenen Stimmung Sorge. Ich habe mich an ihr Dasein, ihre Nähe und unser fragiles Verhältnis, das beständig zwischen Miss- und Verständnis hin- und herwechselt, gewöhnt, und eine andere Person, auf die ich mich neu einstellen, die ich neu kennenlernen müsste, ist nicht das, was ich mir für mich wünsche. Andererseits ist Isabell schon vier Monate in dem Krankenhaus. Einzig die Möglichkeit, dass sie vielleicht wie Richard oder auch Peter mittlerweile ein » Tagespatient« werden würde, der nur in der Woche und nur von morgens bis nachmittags hierherkommen muss, gibt mir ein wenig Hoffnung. Aber Isabell lehnt diese Form der Behandlung ab und will sich lieber der Malerei widmen, bevor im Frühjahr die Kurse wieder beginnen.
Sie verlässt nach unserer Unterhaltung für eine Weile das Zimmer, um an einer Gruppe teilzunehmen, und ich sitze auf meinem Bett und beginne, die Liste neu zu schreiben.
Frau Wängler hat in den letzten Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass eine solche Liste essentiell für die Therapie sei und ich sie, wenn auch nicht für sie, die Therapeutin, dann doch wenigstens für mich schreiben solle. Das weiße Blatt Papier starrt mich an, und ich starre zurück, darauf wartend, dass mir einfällt, was genau ich eigentlich erreichen will.
Schreiben Sie eine Liste all der Dinge, die Sie bis zu Ihrem Lebensende erreicht haben wollen– begründen Sie jedes einzelne. Schreiben Sie eine Liste all der Wünsche und Träume, die sich nicht erfüllt haben– begründen Sie jeden einzelnen Punkt. Schreiben Sie eine Liste der Personen, die Sie geliebt haben– begründen Sie bei jeder, warum. Schreiben Sie doch mal auf, wie Sie so sind. Ohne die gängigen Adjektive (humorvoll, aktiv, lebenslustig, spontan, gebildet, niveauvoll, attraktiv, offen, politisch, konstruktiv, vielseitig interessiert, reif usw.) zu verwenden. Schreiben Sie doch mal ein bisschen was über Ihre tiefsten Abgründe und, wenn Sie schon dabei sind, bitte auch noch über Ihre Perversionen, Ekelhaftigkeiten und Moralvorstellungen. Wie sah Ihre letzte Beichte denn so aus? Schreiben Sie doch mal eine Liste all der kleinen Delikte, die Sie in Ihrem Leben so begangen haben. Und warum. Schreiben Sie Ihre Lügen auf. Schreiben Sie bitte über alles eine Liste. Schreiben Sie, bis es wehtut. Schreiben Sie, bis Ihnen der Finger, die Hand, der ganze Arm und schließlich auch der Kopf abfällt. Wenn Ihnen Ihr Kopf nicht abfällt, dann haben Sie es nicht richtig gemacht. Fangen Sie noch einmal von vorne an. Und los.
Ich schreibe die Liste mehrere Male. Ich schreibe sie unter Tränen, am Fenster und sogar im Bad, während ich auf der Toilette sitze. Ich schreibe, was ich glaube, schreiben zu müssen, danach, was ich glaube, von mir hören zu müssen, danach, was ich glaube, von mir hören zu wollen, und– als ich versuche, tief in mich zu gehen, auch wenn niemand so genau weiß, wie das eigentlich funktionieren soll– schließlich auch, was ich wirklich in mir zu fühlen glaube, zu spüren, Amen. Ich versuche so sehr, jedwede Floskeln, jegliche Allgemeinplätze und Kitsch zu vermeiden, dass am Ende eben genau jene dastehen: Schlaf, Glück, Liebe.
Das Problem ist nicht, dass mir nicht einfällt, was es zu schreiben gibt, sondern dass ich versuche, mich selbst zu analysieren, zu reflektieren, zu terrorisieren bis zu jenem Punkt, an dem ich objektiv auf mich selbst schauen kann. Ich schäme mich für Punkte, die banal erscheinen und deren Erfüllung mir als ein bloßes Befolgen der Diktatur eines Konsums vorkommen, den ich grundsätzlich ablehne. Kann ein Studienabschluss ein Therapieziel sein? Ein gutes Verhältnis zu den Eltern? Geld? Eine Beziehung, die länger als ein paar Nächte, ein paar Tränen und ein bisschen Alkohol hält? Eine Persönlichkeit, die etwas verkraftet? Ein Leben, das aushält, was man sich selbst versprochen, geschworen, verbissen gewünscht hat? So ein Leben, wie man es beobachtet, auf der Straße, in den Cafés, in den Einkaufsmeilen dieser Stadt? Das Leben der Mädchen, die im Bus neben mir sitzen, die gut riechen, gepflegte Spitzen ohne Spliss haben, manikürte Fingernägel und ein
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