Drüberleben
ist lauter.
Einundzwanzig
T herapieziele:
endlich lernen aufzuhören; endlich aufhören, immer wieder damit anzufangen
aussprechen, ausschreien, auswerfen, alles einfach im richtigen Moment herausschleudern; wissen, wann der richtige Moment ist
morgens aufstehen– das morgens, das die anderen auch so nennen würden, dabei nicht über Weinflaschen, nicht über Kaffeetassen, nicht über den eigenen Berg aus Vernachlässigung und Gleichgültigkeit fallen
mit dem richtigen Fuß aufstehen (rechts und links) und nicht dauernd über Wunden stolpern, die wie kleine Pfützen den Weg zum Badezimmer streuen
Nein sagen zu: Alkohol, unbegründet großen Mengen Kaffee, Selbstmitleid, jeglicher Form von Jammern, Männern in Bars, Studenten , Antriebslosen und Angebern, zur Gleichgültigkeit, zum ständigen Drang der Gleichzeitigkeit aller Dinge aufgrund der Schnelllebigkeit der Gedanken, Zigaretten
Nein sagen
Nein sagen
Nein sagen
Ja sagen zu: Sport , Yoga (!), sozialen Kontakten, liebevollen Gesten, Mama und Papa, Regelmäßigkeiten und Struktur, Hingabe, Emotionen
das/ein Studium beenden
einen Job suchen und Geld verdienen(!!!)
Selbstständigkeit auf der Grundlage von Selbstwert, Selbstliebe und Selbstbelohnung
regelmäßig das Haus verlassen, auch mal lüften, auch mal die Pflanzen und den Kopf gießen, auch mal ein gutes Buch lesen, auch mal etwas aushalten, auch mal einfach klarkommen, einfach klarkommen und weitermachen, danke.
Die Liste liegt auf dem Tisch im Zimmer, und ich starre sie aus sicherer Entfernung seit einer geraumen Weile an. Ich habe mir Mühe gegeben. Ich habe mir alle Mühe gegeben, und trotzdem ist sie der Lächerlichkeit preisgegeben, ist nur ein weiteres Manifest des Luxus.
Warum ich und warum nicht die anderen? Wir unterhalten uns darüber, Isabell und ich. Wir sprechen darüber, wir streiten, wir debattieren, kapitulieren schließlich an dem Punkt, der die Frage des Anfangs nur zu wiederholen scheint.
Isabell, aus gleicher Schicht und Herkunft, mit gleicher Religion und gleicher Bildung, fragt als Erste, warum sie es sei, die krank ist, und nicht zum Beispiel ihre Schulfreundin Saskia, die verrückte Saskia, die dauernd nur still in der Ecke saß und bloß ab und an mal einen Satz von sich gegeben hatte, der meistens durchdrungen war von schwerem Gedankengut, warum es nicht diese Saskia sei, die schließlich in einer Klinik gelandet war, sondern ausgerechnet sie, Isabell.
Sie zählt noch ein paar weitere Namen auf und die unerklärlichen Verhaltensweisen der dazugehörigen Personen, aber von niemandem, von niemandem, Ida!, hat sie gehört, dass er einen Therapeuten aufsuchen müsse.
Auch ich erzähle ähnliche Geschichten, von verschiedenen Menschen und den unerklärlichen Wegen, die sie eingeschlagen haben, und deren bisherige » Höhepunkte« nie, wie bei mir, in Kliniken oder anderen psychiatrischen Einrichtungen liegen. Sie liegen bei bestandenen Diplomen und fertiggeschriebenen Bachelor-Arbeiten, bei Auslandssemestern und Ausbildungsstellen, bei Kindern und Reisen, sie liegen an fernen Punkten, die nicht weiter weg von mir sein können als die Vorstellung, ein ähnliches Leben zu führen.
Wir schweigen eine Weile nachdenklich, bis Isabell schließlich zu lachen beginnt, mich an der Hand nimmt und mit mir im Zimmer herumtanzt. Sie singt ein Lied, das von Psychiatrie und einer Party in derselben erzählt, und zeigt beim Lachen ihre beneidenswert weißen Zähne, dreht Pirouetten und ist mit einem Male ganz ausgelassen, scheinbar völlig frei von allem.
Ich frage sie, was es zu lachen gibt, und sie antwortet: » Alles, alles! Das ist ja das Wunderbare! Wir sitzen hier drinnen und zerbrechen uns die Köpfe über unser Leid, warum Mama und Papa uns nicht lieber gehabt haben, warum wir nicht einfach zufrieden sein können, mit dem, was wir haben, und da draußen, da gibt es…«
» Sag jetzt bitte nicht, da draußen gibt es so viele Menschen, denen es schlechter geht als uns«, unterbreche ich sie.
» Doch, doch, das wollte ich sagen, genau das! Im Ernst: Binsenweisheit und so, ich weiß schon. Aber mach dir das doch bitte mal für einen Augenblick klar. Verinnerliche dir das bitte. Da draußen gibt es tatsächlich Menschen, Ida! Und die kriegen das alles ja auch irgendwie hin.«
» Du hast deinen Entlassungstermin heute bekommen, oder?«
» Woher…«
» All das Gerede über die Leute da draußen. Wenn du hier nicht gelernt hast, dass das Leben hier genauso ist wie das Leben vor den
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