Drüberleben
Grinsen, das keinerlei Anstrengung zu kosten scheint? Ist es das, was ich will?
Als Isabell wieder das Zimmer betritt, ist es bereits Abend geworden, und ich sitze an der fünften Version der Liste, von der ich mir erhoffe, dieses Mal endlich den Punkt erreicht zu haben, an dem ich selbst glauben kann, das Wesentliche erfasst zu haben. Ich streiche mit dem zugedrehten Stift über meine Wange und seufze ab und an leise, während Isabell in einem ihrer Bücher liest. Irgendwann blickt sie auf und setzt sich zu mir an den Tisch, legt ihren Kopf auf die Arme und sieht mich stumm an.
» Was machst du?«
» Ich muss mal wieder eine Liste schreiben. Eine Liste über die Dinge, die mir wichtig sind bei der Therapie, eine, die beschreibt, was ich erreicht haben will, wenn das hier vorbei ist. Falls es jemals vorbei sein sollte.«
» Und du kommst nicht voran.«
» Richtig.«
» Das ergeht jedem hier so. Diese Listen sind dazu gedacht, uns zu zwingen, die Therapie als etwas Praktisches, als etwas von Nutzen zu begreifen. Wir sollen dadurch verstehen, dass wir nicht hier sind, um uns über den Kopf streicheln zu lassen, sondern dass wir hier sind, um harte Arbeit zu verrichten. An den Gebäuden unserer Köpfe. Wir sollen verstehen, dass wir das selbst angehen müssen, dass die Therapeuten uns nur helfen können, mit uns an unseren Zielen zu arbeiten, aber dass sie nicht das Ziel bestimmen, sondern nur auf dem Weg beim Tragen helfen… Eigentlich sind sie ganz schön überbezahlt.«
» Ich weiß aber nicht, was meine Ziele sind. Ich habe keine Ahnung, wie ich das herausfinden soll. Alles erscheint mir lächerlich. Ich möchte glücklich sein. So eine Scheiße. Jeder will doch glücklich sein. Das macht doch alle wahnsinnig, dieses ständige Glücklichseinwollen. Deshalb rennen alle in irgendwelche Wellness-Spas und ins Fitnessstudio und zum Life-Coach und lesen Selbsthilfebücher und wechseln dauernd ihren Partner und…«
» … ertrinken in Klischees. Hör mal, so einfach ist das nicht. Du kannst das schön alles alleine herausfinden, das ist die Beschäftigungstherapie unseres Lebens: Sorg für Nahrung, integriere dich sozial, bleib gesund und hab ein bisschen Spaß. Das ist alles. Mehr ist es nicht. Wie du das alles machst, ist eigentlich völlig egal.«
» Aber warum ist es trotzdem für manche so schwer? Wenn es so einfach wäre, dann könnte man ja deine kleine Formel auf Plakate drucken, sie überall verteilen und plötzlich wären alle glücklich, und es gäbe keine Psychiatrien und auch sonst keine Probleme.«
» Weil es eben doch nicht so einfach ist«, antwortet sie ausweichend, und ich frage nicht mehr nach, weil ich die vielen Erklärungen schon kenne. Das Fernsehen. Das Geld. Der Neid. Die Kindheit. Der Hass. Das Internet. Die Filme. Die Spiele. Die Schule. Die Erziehung. Der Terror. Der Krieg.
Nach einer Weile räkelt sich Isabell auf dem Bett, als gälte es, mich zu beeindrucken.
» Ich gehe gleich noch mal raus. Kommst du mit?«, fragt sie und sieht mir gelangweilt dabei zu, wie ich ein Blatt Papier zerknülle und es in den Mülleimer werfe.
Ich verneine, und sie erwidert, dass es mir vielleicht guttun würde, mal wieder das Zimmer zu verlassen, ohnehin gäbe es bald Abendessen.
Sie verlässt das Zimmer, und ich bin wieder allein.
Die letzte Version der Liste schreibe ich schnell und ohne einen Blick darauf zu werfen. Was sollen meine Ziele sein, in einem Leben, dessen entscheidende Wendepunkte am Ende doch immer nur Zufall sind.
Zweiundzwanzig
I sabell ist in diesen Tagen verschlossen und unzugänglich. Sie kommt spät in unser Zimmer zurück und geht dann gleich in ihr Bett, ohne ein Wort an mich zu richten. Auch nach mehrmaligem Nachfragen gibt sie nicht preis, warum sie so schweigsam ist, und nach drei Tagen gebe ich meine Versuche schließlich auf. Stattdessen beginne ich, in den Nächten mehr und mehr Zeit mit Simon zu verbringen, diesem Wesen, das aus einer anderen Sphäre zu kommen scheint und eigentlich ebenso wenig preisgibt wie Isabell, sich jedoch plötzlich wesentlich redseliger gibt als sie. Er überrascht mich Nacht für Nacht mit neuen Geschichten und Ansichten, und seine neue Offenheit, die zu Beginn noch ein Quell der Irritation war, entfaltet eine Atmosphäre des Vertrauens.
Am vierten Tag des großen Schweigens der Isabell Stern sitze ich mit Simon auf dem Raucherbalkon, von dem aus wir– durch ein Gitter blickend– das nächtliche Leuchten der Stadt betrachten.
Wir
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