Drunter und Drüber
ihre Freundin endlich ging. Auch wenn seine Miene Gelassenheit spiegelte, spürte sie seinen inneren Aufruhr und sehnte sich danach, endlich zu erfahren, weshalb er, als er bei ihr geläutet hatte, derart emotional gewesen war.
Allerdings bekam sie keine Gelegenheit mehr zu einem Gespräch unter vier Augen, denn gerade als Char gehen wollte, tauchten Tate und Tante Sophie in der Wohnung auf.
J.D. grüßte die beiden liebenswürdig, konnte jedoch gleichzeitig einen leisen frustrierten Seufzer nicht unterdrücken. Was Dru durchaus verstand. Die Tatsache, dass er, mit welchem Problem auch immer, zu ihr gekommen war, freute sie natürlich. Aber sie wollte darüber auch reden, und es machte nicht den Eindruck, als ob sie beide in absehbarer Zeit dazu Gelegenheit bekämen.
Als Sophie von ihren und Bens Plänen für den Abend sprach, wurde Dru klar, dass sie ihn nicht einmal in seiner Hütte besuchen konnte. Sie nickte nur hilflos, als er sich mit einem letzten sehnsüchtigen Blick in ihre Richtung verabschiedete und sich wieder in die Einsamkeit seiner Unterkunft begab.
Um zehn Uhr an diesem Abend war Dru mit den Nerven fertig. Tate lag inzwischen im Bett und sie wählte hastig die Nummer des Empfangs. Das Hotel bot Babysitter an, und dies war genau der passende Moment, diesen Service selbst einmal zu nutzen.
Als man ihr versicherte, dass noch ein Babysitter frei war, sagte sie mit einem erleichterten Seufzer: »Gut. Würden Sie ihn darum bitten, dass er raufkommt? Tate schläft und ich muss noch mal für circa eine Stunde weg.«
Fünfzehn Minuten später überquerte sie die Lichtung vor der Hütte und erklomm eilig die Stufen zur Veranda. Motten flatterten um die Lampe über ihrem Kopf, während sie laut klopfte.
»Hi.« Die Tür quietschte ein wenig, als J.D. sie aufschob. »Ich hätte nicht erwartet, dich heute noch zu sehen.« »Ich habe kurzfristig einen Babysitter engagiert.« Sie schmiegte sich an seine Brust, schlang ihm die Arme um den Hals, stellte sich auf Zehenspitzen, küsste ihn zärtlich auf die Lippen, trat einen Schritt zurück und sah ihm ins Gesicht. »Du warst heute Nachmittag ziemlich erregt. Erzähl mir, was passiert ist.«
Er zögerte, als hätte er es sich, nachdem er ihre Wohnung verlassen hatte, wieder anders überlegt. Doch dann führte er sie zum Schaukelstuhl im Wohnzimmer, zog sie auf seinen Schoß, legte die Arme um sie und brachte den Stuhl, indem er sich mit einem Fuß abstieß, leicht zum Wippen.
Er erzählte ihr von Edward Lawrences verschwundener Taschenuhr, seiner empörten, verletzten Flucht aus Edwinas Haus und den Briefen, die ihm durch sämtliche Pflegefamilien und Heime gefolgt waren.
»Und bis heute hast du sie nie gelesen?«, fragte sie, als er verstummte.
»Nachdem ich die ersten Briefe gelesen hatte, sah ich keinen Sinn darin, weitere zu lesen. Ich war mir völlig sicher zu wissen, was drin stand.«
Er hatte eindeutig Schuldgefühle und Dru rieb ihre Wange in der Mulde zwischen seiner Brust und seiner Schulter und musterte ihn. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er nun reglos auf die gegenüberliegende Wand.
»Tu dir das nicht an«, bat sie ihn leise. »Das hat Edwina schon getan. Ich erinnere mich, dass sie, als ich noch ein kleines Mädchen war, von dir erzählt hat. Nur, dass ich damals nicht wusste, dass du derjenige warst – du warst einfach irgendein Junge, den sie, wie sie sagte, völlig falsch behandelt hatte. Und das hat sie sich bis zu ihrem Ende niemals verziehen.«
»Ach, verdammt.« Er wandte sich ihr zu. »Weißt du, ich habe sie wirklich mehr als gern gehabt. Als ich sie kennen lernte, muss sie um die sechzig gewesen sein – ich erinnere mich noch, dass sie mir uralt vorkam. Aber sie kannte sich mit Dingen aus, von denen ich bis dahin nie auch nur gehört hatte, und sie hat mich besser behandelt als jeder andere Mensch, dem ich je begegnet bin.«
»Du hast sie geliebt«, stellte Dru mit sanfter Stimme fest und blinzelte die Tränen, die sich angesichts seines Elends in ihren Augen sammelten, angestrengt zurück.
»Ja, ich schätze, ich habe sie geliebt. Sie war der erste Mensch, auf den ich traf, der tatsächlich Niveau hatte. Sie war der Ansicht, dass zum Beispiel gutes Benehmen bei Tisch von Bedeutung wäre, und sprach mit ernster Miene über persönliche Ehre – wovon ich, das kannst du mir glauben, dort, wo ich bis dahin aufgewachsen war, nie auch nur gehört hatte. Genau das hat es so hart für mich gemacht, als plötzlich alles
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