DS004 - Das Wrack im Eis
er.
Ein Tier hätte Victor Vail an Ort und Stelle getötet und zerrissen! Doc hatte aber weder Kleidungsfetzen noch menschliche Überreste gefunden, wie es in diesem Fall unvermeidbar gewesen wäre. Und noch etwas anderes sprach dagegen, daß der Geiger ein so fürchterliches Ende gefunden hatte: der Geruch, den Docs überempfindliche Nasenlöcher aufgenommen hatten.
Er war schwer bestimmbar, eine Mischung aus tierischen und menschlichen Ausdünstungen, die Doc fast einen Schauder über den Rücken jagte. In einem Punkt aber war er sicher – es handelte sich nicht um die Witterung eines Polarbären!
Doc zuckte mit den Schultern und richtete sich auf. Der nächste Schritt trug ihn wieder in den heulenden Blizzard hinaus, er setzte den Marsch landeinwärts fort.
Das Gelände stieg leicht an. Eis funkelte nur noch in unzusammenhängenden Flecken. Die Windgeschwindigkeit war so stark, daß nicht einmal der Schnee liegenblieb.
Doc überschritt einen Felskamm. Von nun an führte der Weg abwärts. Das Schneetreiben wurde dichter. Es stellte eine ernste Gefahr dar, denn es verbarg trügerische Spalten, in denen der Tod lauerte. Docs Wachsamkeit wuchs mit jedem Schritt.
In ein, zwei Tagen, vielleicht auch erst in einer Woche, wenn die Gewalt des Blizzards gebrochen war, würde die Dunstschicht, die über der Landschaft lag, verschwinden, so daß die ewige Sonne des arktischen Sommers durchdringen konnte. Sie würde den Schnee in Matsch verwandeln, den die Kälte wieder erstarren ließ. Der Dicke des Gletschers würden wieder einige Zoll hinzugefügt werden, wie es seit Jahrtausenden geschah.
Behutsam suchte Doc sich den Weg. Zuweilen, wenn keine Gefahr zu drohen schien, ließ er sich vom Sturm vorantreiben wie ein Segler vor dem Wind.
Ein unheimliches Knirschen und Rumpeln klang an seine Ohren. Preßte er sein Gesicht an das Eis zu seinen Füßen, so hörte er das Geräusch laut und klar. Er brauchte nicht lange, um es richtig zu deuten. Es war das Geräusch des Packeises, das sich an der Küste übereinanderschob. Die Küste konnte also nicht mehr weit sein!
Ein unerwarteter Laut, der das tödliche Heulen des Blizzards übertönte, ließ den Bronzemann sekundenlang erstarren. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.
Eine Frau schrie!
Doc schüttelte seine Erstarrung ab und eilte in der Richtung weiter, aus der die Stimme gedrungen war. Einmal konnte er sich erst in der letzten Sekunde zur Seite schnellen und so dem Tod am Grund einer tiefen Gletscherspalte entwischen.
Mit hämmerndem Herzen lief er weiter.
Eine weiße Masse ragte plötzlich vor dem Blick seiner goldfarbenen Augen auf. Sie sah aus wie ein gigantischer Eisberg, den der Arm eines Riesen an die Küste geschleudert hatte. Zugleich aber erweckte sie den Eindruck, von Menschenhand gestaltet worden zu sein.
Ein Schiff!
Der von Eis überkrustete Rumpf des verschollenen Passagierdampfers ›Oceanic‹!
Doc jagte an dem Rumpf entlang, der mit leichter Schlagseite im Wasser lag. Hundert Meter – zweihundert!
Er kam an ein Gebilde, das wie ein langer Eiszapfen von der Reling des Dampfers herabhing. Es war eine von bläulich schimmerndem Eis überzogene Kette, deren Glieder glänzende Knoten bildeten.
Diese Knoten ermöglichten es Doc, sich an der Kette emporzuhangeln. Es war ein hartes Stück Arbeit, selbst für die gestählten Muskeln des Bronzemannes. Eine eingefettete Kletterstange war im Vergleich damit eine bequeme Treppe. Der Blizzard heulte und dröhnte, Böen drohten, Docs sehnige Hand von ihrem Halt zu reißen.
Die Frau schrie nicht mehr.
Doc erreichte die Reling, schwang sich an Deck. Sein Blick wanderte über ein Bild unwahrscheinlicher Zerstörung. Deckstrümmer und Teile der Aufbauten, zerschmetterte Rettungsboote und zersplitterte Ladekräne lagen unentwirrbar verstreut umher. Jahrelang hatten die Polarelemente gewirkt und sich stärker als Menschenwerk erwiesen. Nun bedeckte eine dicke Eisschicht die Trümmer. Das ganze Vorderdeck ähnelte einer erstarrten, schrecklichen Wildnis, über die der Sturm heulte.
Doc erreichte eine Luke. Sie widerstand selbst seiner ungeheuren Stärke. Die Jahre schienen sie fest zementiert zu haben.
Das Deck ragte nur wenig schräg auf. Doc hatte keine Mühe, das Heck des Schiffes zu erreichen.
Ein offener Niedergang zog ihn magisch an. Schnee wirbelte in die Tiefe. Auf halber Höhe der Stufen erkannte Doc, daß sich auf dem Boden eine zwei Meter dicke Eisschicht gebildet hatte, die jeden
Weitere Kostenlose Bücher