DS055 - Der Allwissende
Mauerecke aus gebranntem Lehm bog, Pat wollte ihr folgen, aber der Bettler, der an der Ecke kauerte, bot ein Bild so faszinierender Häßlichkeit, daß Pat einfach nicht den Blick von ihm abzuwenden vermochte. Die Knochen stachen ihm fast durch die Haut, als er Pat den ausgemergelten Arm entgegenstreckte, und Pat ließ ein paar Münzen in seine dürre braune Hand fallen. Dann eilte sie weiter und um die Ecke. Hinter ihr rief der Bettler etwas, das Pat nicht verstand, da es im Beduinendialekt der Berge gehalten war. Wahrscheinlich wollte er sich nur für ihre Gabe bedanken.
Hätte Pat zurückgeblickt, so würde sie mit Erstaunen bemerkt haben, daß der verhungert aussehende Bettler plötzlich eine verblüffende Behendigkeit an den Tag legte. Er war hochgefahren und fuchtelte mit seinem stockdünnen Arm herum.
Drei Beduinen in
abbas
und
kafiehs
erschienen daraufhin aus einer versteckten Tür in der Mauer und glitten auf die Ecke zu, um die Pat verschwunden war.
Hinter dieser Ecke war Pat abrupt stehengeblieben.
»Aber so weit kann sie inzwischen doch gar nicht gegangen sein«, murmelte sie besorgt.
Von Lady Fotheran war nichts mehr zu sehen, obwohl das völlig unerklärlich schien. In den Mauern beiderseits der Gasse waren die kleinen Türen fest geschlossen, und bis zur nächsten Ecke waren es wenigstens hundert Meter.
Pat eilte voran. Sie war Doc zu ähnlich, um wirkliche Angst zu empfinden. Lautlos glitten die Schatten der drei Beduinen hinter ihr her. Pat beschleunigte ihre Schritte. Vorerst blieben die Beduinen noch in respektvoller Entfernung. Plötzlich war ein schwacher, halberstickter Schrei zu hören. Es war zweifelsfrei die Stimme Lady Fotherans.
Pat blieb stehen und versuchte die Richtung festzustellen. Der Schrei schien hinter einer der geschlossenen Türen erklungen zu sein.
Pat sah eine der Türen ein paar Zoll offenstehen und ging darauf zu. Sie faßte in ihre Handtasche und spürte beruhigend den Griff ihrer kleinen Automatik.
»Lady Fotheran!« rief sie. »Sind Sie da drin?«
Pat starrte gebannt auf die angelehnte Tür. Daß sich währenddessen in ihrem Rücken lautlos eine andere Tür öffnete, bemerkte sie erst, als sich ihr von hinten eine schmierige Hand über den Mund legte und ihren Aufschrei erstickte. Andere Hände entwanden ihr die Pistole, und sie wurde durch die Tür gezerrt, die sich hinter ihr schloß.
»Was wollen Sie von mir?« fauchte Pat, sobald sie den Mund wieder frei hatte.
Wenigstens ein halbes Dutzend Männer befanden sich den Stimmen nach in dem halbdunklen Raum. Aber niemand beantwortete ihre Frage. Zwei Beduinen banden ihr die Arme auf dem Rücken zusammen.
»Wenn dies ein Straßenraub ist, nehmt alles, was ich bei mir habe, und laßt mich gehen«, sagte Pat. »Sonst bekommt ihr eine Menge Ärger.«
»Soviel Ärger nun auch wieder nicht«, sagte eine wohlmodulierte Stimme von einer inneren Tür her. »Es ist mir ein Vergnügen, daß wir uns so bald schon wiederbegegnen.« Obwohl der Mann jetzt Beduinenkleidung trug, machte er eine vollendete Verbeugung. »Und diesmal wird Kassan keine Fehler mehr machen.«
Pat war momentan sprachlos. Der Mr. Kassan, der sie aus dem Hotel in Manhattan gekidnappt hatte, war der letzte, den sie hier in Amman wiederzutreffen erwartete.
»Das wird Ihnen noch leid tun!« rief Pat, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte. Trotz ihrer prekären Lage dachte sie aber sofort an Monk und Ham.
»Übrigens, was haben Sie mit Docs Freunden gemacht? Die haben Sie ja wohl auch kidnappen lassen.«
Mr. Kassan lächelte süffisant. »Oh, da gab es in der Tat das Problem, daß unsere Maschinen ohnehin schon überladen waren. Aber Sie werden jetzt ebenfalls eine kleine Reise ...«
Aber Pat hörte ihm nicht mehr zu. Mit auf gerissenen Augen starrte sie in den hinter der Tür liegenden Raum, der vom Licht einer Öllampe erhellt war. Ein weiterer Mann war in den Lichtschein getreten.
»Sie!« japste Pat. »Wie kommen Sie hier ...«
In diesem Augenblick wurde ihr ein feuchter Lappen vor Mund und Nase gedrückt, und sie spürte den süßlichen Geruch von Chloroform. Und dann schwanden ihr bereits die Sinne.
»Nach etwa zwanzig Minuten ging ich denselben Weg zurück und hoffte Lady Fotheran und Miß Savage wiederzufinden«, erklärte Dernall düster. »Als ich sie nirgendwo entdecken konnte, dachte ich natürlich, sie seien bereits zum Luftschiff zurückgegangen. Aber dann erkannte ich einen Bettler wieder, den ich zuletzt in der Nähe des
Weitere Kostenlose Bücher