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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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auch seinen Namen auszusprechen, aber diesmal gelang es ihm nicht. Der Grund dafür war, dass Wörter in der Fayu-Sprache immer mit einem Vokal enden.
    Da zeigte mein Bruder wieder auf sich und sagte: »Babu.« So hatten wir ihn früher immer genannt, als wir noch in Nepal lebten. Ohne Schwierigkeiten wiederholte Tuare den Namen, und von diesem Tage an hieß mein Bruder nur noch »Babu«.
    Ein Fayu betrachtet sich im Spiegel
    Tuare wurde mein engster Spielkamerad, mein bester Freund, mein kindlicher Vertrauter, der mich bis heute als seine Schwester Sabine bezeichnet. Durch Tuare verloren auch die anderen Kinder ihre Angst vor uns. Sie kamen nach und nach: Bebe, Abusai, Atara, Ohri, Ailakokeri, Dihida und Esori.
     
    Wir bemerkten schnell, dass die Fayu-Kinder nicht nur ängstlich waren, sondern auch gar keine Spiele kannten. Der Grund dafür kümmerte uns damals noch nicht – wir zeigten ihnen einfach unsere Spiele. Jeden Tag gingen wir mit ihnen schwimmen, spielten im Wasser Krokodile jagen, brachten ihnen Fußball oder Verstecken bei. Dafür lehrten sie uns mit Pfeil und Bogen schießen und die Kunst, wie man sie baut. Sie erklärten uns, welche Tiere man essen kann und welche nicht, welche Pflanzen giftig sind und welche genießbar. Wie man ohne Streichholz Feuer macht oder ein Messer aus Bambus herstellt – Fähigkeiten, die uns mit großem Stolz erfüllten.
    Am meisten aber liebten wir Pfeil und Bogen. Wir stellten uns vor, wir hätten uns im Dschungel verirrt und müssten auf uns selbst gestellt zurechtkommen – was ja gar nicht so abwegig war. Tuare und die anderen hatten uns auch gezeigt, wie man kleine Hütten baut, um uns vor dem häufigen Regen zu schützen. Zum Überleben müssten wir Tiere jagen und dann ein Feuer anzünden, um das Erlegte zu braten. Wenn Mama gewusst hätte, was wir in dieser Zeit so alles gegessen haben, hätte sie, die gelernte Krankenschwester, bestimmt einen Herzanfall bekommen. Wir haben von Spinnen über Käfer und Würmer bis hin zu ganz kleinen Fischen alles verschlungen.
     
    Viel später habe ich einmal eine Bemerkung gemacht, die ich heute noch zutreffend finde: Hätte man mich als Zehnjährige allein inmitten des Dschungels ausgesetzt, so wäre ich durchgekommen. Hätte man mich aber mitten in einer Großstadt ausgesetzt, ich wäre sicherlich gestorben.
    Im Dschungel lernte ich die Kunst des Überlebens, lernte mit ihm zu leben, lernte seine Gefahren kennen und auch den Schutz, den er bot. Ich lernte den Dschungel zu respektieren und ihn auch zu beherrschen, soweit das einem Menschen möglich ist. In den Wochen und Monaten nach unserer Ankunft wurde ich wie Tuare: ein Kind des Dschungels.

Ein anderes Leben
    S o gewöhnten wir uns langsam an unser neues Leben, oder besser gesagt, an das tägliche Überleben. An ein Dasein im Urwald, das sich grundlegend von dem Leben in Europa unterscheidet. Heute weiß ich, dass es vollkommen unterschiedliche Welten sind, zwei Planeten, mehr noch, zwei verschiedene Galaxien.
    Natürlich leben hier wie dort Menschen, die essen, trinken und schlafen müssen. Wir alle sehen, riechen, fühlen, schmecken, lieben und hassen, zeugen Kinder und sterben. Doch da, so scheint mir, enden die Gemeinsamkeiten. Hoffentlich gelingt es mir im Laufe meines Buches, meine persönliche Erfahrung dieser Welten auch für den Leser fühlbar zu machen – indem ich erzähle, was mich geprägt hat. Vielleicht aber gelingt es mir schon jetzt, den Sinn dafür zu schärfen und das für mich Wesentliche beider Welten auf den Punkt zu bringen.
     
    Das Leben hier ist für mich wie ein Tornado, es kommt und saugt mich auf, nimmt mich mit, wirbelt mich voller Hast und Hektik herum, bis ich den Eindruck habe: Die Zeit dreht sich schneller, als ich selbst mich drehen kann.
    Die großen Menschenmengen, die ständig um mich herum sind und denen ich nicht entfliehen kann. Lärm von der Straße oder von einer Baustelle, die sich direkt vor meinem Fenster befindet. Streit mit der Familie um Geld, Untreue, Lieblosigkeit. Streit mit den Nachbarn – um Nichtigkeiten. Keine Zeit, vor allem das: niemals genug Zeit.
    Mir ist bewusst, dass meine Urteile vielleicht zu pauschal und nicht unbedingt neu sind, aber immer mehr bekam ich das Gefühl: Die Menschen in unserer westlichen Welt leben im Großen und Ganzen nur für sich selbst, für ihr eigenes Wohlbefinden – und können es doch nicht erlangen. Heute kann ich mich hiervon natürlich nicht mehr ausnehmen. Man geht

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