Dschungelkind /
morgens zur Arbeit, kommt abends müde nach Hause. Am Ende des Monats zahlt man alle Rechnungen und legt das Wenige, das übrig bleibt, auf ein Sparkonto. Vom Ersparten leistet man sich einen Urlaub, um der Hektik des alltäglichen Lebens wieder von neuem gewachsen zu sein, und immer so fort.
Um aus dem Einerlei auszubrechen, streben wir nach Luxus. Wir stürzen uns in Schulden, um ein dickeres Auto zu kaufen, ein größeres Haus oder neue Designerklamotten, die wir in Zeitschriften oder Schaufenstern gesehen haben. Dann hat man schließlich ein neues Auto, vielleicht auch etwas Geld auf dem Konto, aber trotzdem bleibt die Unzufriedenheit, und man fängt wieder von vorne an. Ein Teufelskreis, aus dem auch ich mittlerweile keinen Ausweg mehr finde.
Ich will unsere so genannte »Wohlstandsgesellschaft« nicht in Bausch und Bogen verurteilen, aber ich habe für mich das Gefühl, irgendetwas stimmt hier nicht mit mir, irgendetwas fehlt. Und schaue ich mich in meinem Umfeld um, dann sehe ich, dass es den anderen auch nicht besser geht.
Natürlich haben wir hier sehr viele Annehmlichkeiten, die auch mich über die Jahre zu einer verwöhnten Person gemacht haben: Immer fließend warmes Wasser, Supermärkte, wo ich alles, was ich begehre, kaufen kann. Elektrizität, Telefon, Fernsehen, Internet, E-Mail und vieles mehr – nicht zu vergessen die medizinische Versorgung.
Und doch liege ich abends oft im Bett und sehne mich nach meinem Dschungel, sehne mich nach der Stille und dem Frieden. Ich sehne mich danach, barfuß zu laufen, keine Schminke zu tragen, keine Termine wahrnehmen zu müssen, bei denen ich rechtzeitig erscheinen muss. Morgens wach zu werden und die süße Luft des Urwalds einzuatmen. Eine Sonne zu fühlen, die immer am Himmel strahlt, Bäume zu sehen, die immer grün bleiben, und wunderschöne weiße Wolken, die langsam über den unendlichen blauen Himmel schweben.
Plötzlich eine Stimme, Radio Hamburg, die mich aus meinen Träumen reißt. Sechs Uhr früh, ich krieche die Treppen hinunter in die Küche, schalte die Kaffeemaschine ein, und zum hundersten Mal denke ich, dass ich mir, wenn ich mehr Geld habe, unbedingt eine automatische Kaffeemaschine anschaffen muss. Eine, die man vorprogrammieren kann, damit der Kaffee schon fertig ist, wenn ich aufstehe. So viel zum Verwöhntsein. Als wäre das lebensnotwendig.
Ich steige die Treppen wieder hinauf, gehe unter die Dusche, ziehe mich an und wecke die Kinder, um sie für den Kindergarten fertig zu machen. Wir müssen uns wie immer beeilen, der Bus kommt gleich. Schnell die Tasche packen, Schuhe anziehen, und schon klingelt es. Uff!
Danach kehrt ein wenig Ruhe ein, alle sind aus dem Haus, der neue Tag hat begonnen. Ich gehe nach unten in mein Arbeitszimmer und setze mich an den Computer. Checke meine E-Mails und lese die Nachrichten: wieder mal Unruhen im Nahen Osten, Probleme in der Politik, und ganz unten auf der Seite die Traumfrau des Tages. Ich zünde eine Zigarette an, atme tief ein und spüre, wie das Nikotin in meinen Körper dringt. Schuldbewusst denke ich an die Nikotinpflaster, die schon seit einer Ewigkeit am gleichen Platz liegen, ungeöffnet. Ich hasse es, dass ich rauche.
Ich renne von einem Termin zum nächsten, von einem Verkehrsstau zum anderen – und frage mich zunehmend: Was mache ich eigentlich hier?
Später sitze ich wieder in meinem Arbeitszimmer, mein Blick streift Pfeil und Bogen in der Ecke. Ich stehe auf und gehe hinüber, lasse meine Hand über das geschnitzte Holz gleiten, das sich so herrlich glatt anfühlt. Die Pfeile stehen hoch und stolz neben dem Bogen. Ihre Spitzen sind kunstvoll gefertigt, eine größere zum Jagen von Schweinen und Straußenvögeln, eine andere für kleine Tiere und Vögel. Wunderschön verziert ist alles, der Erbauer hat seine unverwechselbaren Zeichen liebevoll in das Holz graviert, um sich in dem Gerät zu verewigen.
Ein sehnsuchtsvoller Schmerz überkommt mich, doch als ich aufschaue, sehe ich nur das Flimmern des Computerbildschirms, der mir zuruft: weiterschreiben, arbeiten! Ich setze mich wieder auf meinen roten Stuhl.
Ja, das Leben im Dschungel ist anders als hier. Ich will nicht sagen, dass ich in einer besseren Welt aufgewachsen bin, wohl aber in einer vollkommen anderen. Und für mich persönlich ist sie rückblickend viel schöner. Idealisiere ich meine Kindheit? Wir Kinder waren glücklich, waren frei, lernten, auf andere Art zu denken – und ich glaube, genau dies ist der
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