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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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entscheidende Punkt.
    Ich wurde vor kurzem einmal gefragt, ob es nicht unverantwortlich von meinen Eltern gewesen sei, uns Kinder den Gefahren des Dschungels auszuliefern. Ich war so verblüfft, dass ich zunächst gar nicht wusste, was ich antworten sollte. Unverantwortlich? Von welchen Gefahren war hier die Rede? Die Gefahren liegen nicht im Urwald, schoss es mir unmittelbar durch den Kopf, sie liegen doch hier, ich könnte morgen von einem Auto überfahren werden oder bei einem Unfall sterben. Mein Kind könnte entführt werden oder gar missbraucht und ermordet. Ich könnte meine Arbeit verlieren, mein Haus, mein Auto. Ist das nicht alles gefährlich?
    Für mich birgt diese Zivilisation mehr Risiken als das Leben im Dschungel. Man ist so abhängig hier im Westen, abhängig von Umständen wie dem Arbeitsmarkt, vom Einkommen, der richtigen Altersvorsorge, um nur einige zu nennen. Man lebt so selbstverständlich in Zwängen, dass man es meistens für sich selbst gar nicht realisiert.
    Im Urwald dagegen ist alles schwarz oder weiß; die vielen Grautöne der so genannten Zivilisation gibt es dort nicht. Im Dschungel ist man Feind oder Freund. Es regnet oder es scheint die Sonne. Freunde und Familie werden mit dem eigenen Leben beschützt und gegen Feinde verteidigt. Alles scheint so viel einfacher, klarer, und man weiß immer, was zu erwarten ist.
    In der Fayu-Gesellschaft hat jeder seinen festen Platz, jeder weiß, was er zu tun hat. Meine Familie und meine Stammesmitglieder sind für mich da, so wie ich für sie da bin. Alles wird geteilt: Habe ich zum Beispiel zwei Fischhaken, so gebe ich einen davon ab. Stirbt mein Mann, dann heiratet mich sein Bruder, versorgt mich und meine Kinder, baut ein Haus für mich, geht auf die Jagd für mich. Sterben meine Eltern, werde ich von einem anderen Familienmitglied oder Stammesmitglied aufgenommen und gut behandelt.
    Wenn ich ein Stück Fleisch esse, nehme ich nur ein oder zwei Bissen davon und gebe es weiter an den, der neben mir sitzt; dieser tut das Gleiche und gibt es weiter an seinen Nachbarn. Auf diese Weise bekommt jeder den gleichen Anteil an der Mahlzeit. Man teilt zum Überleben, man schließt Freundschaften bis in den Tod, man schützt und hilft einander. Männer gehen zusammen zur Jagd, Frauen gewinnen Sago oder gehen gemeinsam fischen.
    Und wenn der tägliche Nahrungsbedarf für alle gedeckt ist, sitzt man ums Feuer und erzählt Jagdgeschichten. Wie man zum Beispiel einmal ein Wildschwein getötet hat, das so groß war wie ein Haus! Oder ein Krokodil, das so lang war wie der gesamte Fluss breit! Natürlich weiß jeder, dass maßlos übertrieben wird, aber es ist spannend, und das ist alles, was zählt. Manchmal saßen wir auch stundenlang tatenlos herum, schauten umher, beobachteten die Vögel, die über uns hinwegflogen, aßen etwas und sprachen kein Wort.
     
    Um es auf den Punkt zu bringen: Der Unterschied zwischen meinen Welten besteht darin, dass das Leben im Urwald körperlich zwar anstrengender, psychisch für mich aber sehr viel leichter zu ertragen ist. Das Leben in der westlichen Welt dagegen ist körperlich leichter, seelisch aber viel, viel komplizierter.
    Es dauerte lange, bis ich das erkannte; erst seit ein paar Jahren sehe ich klar. Nach meiner Ankunft in Europa jedoch litt ich unter einem Kulturschock, der mich zunächst betäubte, dann erdrückte und schließlich in Panik versetzte. Ich musste plötzlich, ohne Vorwarnung, einen seelischen Marathon laufen und hatte doch vorher kaum ein paar Schritte getan. Musste alles neu lernen, denn obwohl ich mich äußerlich nicht von anderen Europäern unterschied, kam ich von einem anderen Planeten, kannte nur schwarz und weiß, war in einem Zeitalter aufgewachsen, das für die meisten Menschen gar nicht mehr existiert. Mit einem der letzten unberührten Urvölker, dessen Kultur in der Steinzeit stecken geblieben war, hatte ich ein Leben gelebt, in dem die Zeit stillstand, abgeschnitten und vergessen von der Außenwelt. Im Verlorenen Tal war ich glücklich – im Rest der Welt fühlte ich mich wie eine Verlorene.
     
    Sie werden sich jetzt sicherlich fragen, wie ein deutsches Mädchen mit deutschen Eltern gerade in diesen so abgelegenen Teil der Erde kommt, zu einem vollkommen unbekannten Volk? Um das zu erklären, muss ich in der Zeit weit zurückgehen. Zurück zu der Zeit und dem Ort, wo mein Leben begann.

Wo alles begann
    D ie Zukunft meiner Mutter Doris entschied sich, als sie zwölf Jahre alt war: Sie

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