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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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Herumrennen und miteinander Toben kannten sie nicht; keine Liebe, keine Vergebung, keinen Frieden und keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
    Zu dieser Zeit lag die Sterblichkeitsrate für Neugeborene bei siebzig Prozent. Die Lebenserwartung der Erwachsenen betrug dreißig bis fünfunddreißig Jahre.
     
    Was Außenstehende erstaunen mag: Die Fayu sehnten sich im Grunde ihres Herzens nach Frieden, wollten nicht mehr töten und Krieg führen. Sie hatten es meinem Vater ja bei nahezu der ersten Begegnung mitgeteilt. Aber da alle unwiderruflich dem Gesetz der Blutrache unterstanden, wussten sie keinen Ausweg, bis wir zu ihnen kamen. Denn wir hatten nicht nur eine andere Hautfarbe – kamen also von einem völlig anderen »Stamm« –, sondern, noch viel wichtiger, wir hatten auch nie etwas mit der wechselseitigen Blutrache zu tun gehabt. Mit unserem Kommen erwachte in den Fayu die Hoffnung, den Teufelskreis durchbrechen zu können. Wir waren neutral, waren ein Anlass, dass die verschiedenen Volksgruppen sich treffen konnten, ohne sich sofort zu bekriegen. Mit der Zeit fingen sie an, wieder in Ruhe miteinander zu reden, teilten sich das Essen und unterhielten sich über die Jagd. Es sollte natürlich noch Jahre dauern, bevor die Spirale der Gewalt endgültig durchbrochen war und dauerhaft Frieden herrschte. Doch der erste Schritt war getan.
    Wenn die Fayu-Kinder mit uns spielten, konnten sie für eine Weile all das vergessen, was an mörderischer Tradition auf ihnen lastete – und wurden, wie wir, glückliche Kinder.
     
    Jahre später übrigens, als Mama ihre erste Fayu-Schule aufmachte, kamen Diro, der Waisenjunge, und Isore, der Sohn von Häuptling Baou, der Diros Eltern auf dem Gewissen hatte, in dieselbe Klasse. Sie waren im gleichen Alter und beide sehr intelligent. Am Anfang hätte man die Luft im Klassenzimmer vor lauter Feindseligkeit zerschneiden können. Doch Mama hat sich oft mit den beiden hingesetzt, um über ihre Vergangenheit zu sprechen. Und nach und nach näherten sie sich an und wurden unzertrennlich. Als Isore nach dem Tod seines Vaters Häuptling wurde, machte er Diro zu seinem engsten Berater. Er ist es heute noch.

Nachrichten von der Außenwelt
    W ir tauchten immer mehr in den Rhythmus des Dschungels ein, doch niemals ganz und gar: Alle paar Monate wurde unsere Post geliefert und erinnerte uns an die Existenz einer anderen Welt. Das war immer ein aufregender Tag – nicht nur für uns, sondern auch für die Fayu.
    Der Termin und die genaue Zeit wurden per Funk einige Tage zuvor vereinbart, und wie das Ereignis näher kam, stieg die Spannung.
    »Ich bekomme dieses Mal bestimmt wieder viele Briefe«, freute sich Judith, die bei diesen Gelegenheiten immer aufblühte.
    »Ich auch, ich auch!«, echote ich begeistert.
    »Sabine«, seufzte Judith und verdrehte die Augen, »du wirst keine Briefe bekommen, und zwar deswegen, weil du keine schreibst. Das hat Mama dir doch das letzte Mal erklärt.«
    Doch was Mama mir erklärt hatte, war meinem achtjährigen Hirn fremd gewesen; ich konnte einfach nicht verstehen, warum man Monate auf die Rückantwort eines Briefes warten sollte, und deshalb schrieb ich auch keine.
    »Bestimmt kriege ich dieses Mal trotzdem einen«, sagte ich mir in einer Mischung aus Trotz und kindlichem Vertrauen in die Gerechtigkeit der Welt.
     
    Die Post kam normalerweise nachmittags, aber schon frühmorgens musste Mama den Unterricht ausfallen lassen. Die Aufregung war einfach zu groß, wir hätten uns gar nicht konzentrieren können.
    »Ist es endlich so weit? Wann kommt er?«, fragte Christian, der seit Stunden gespannt vor dem Haus wartete.
    Papa antwortete gar nicht mehr auf diese Frage, die er bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Tag gehört hatte. Stattdessen pfiff er vor sich hin, wie er es immer tat, wenn er versuchte, jemanden zu ignorieren. Bei Christian nützte es wenig; er hatte mehr Ausdauer als Judith und ich.
    Da fingen die Fayu an, aufgeregt miteinander zu reden. Sie hörten wohl schon den Motor des kleinen Flugzeugs. Es dauerte noch ein paar Minuten, dann hörten wir es auch, ein leises Dröhnen, das immer lauter wurde. Gespannt schaute ich in den wolkenlosen Himmel, kniff meine Augen ein wenig zu, die von der Sonne geblendet wurden. Da, der kleine Punkt am Himmel wurde immer größer, bis ich die Cessna endlich eindeutig erkannte.
    Alle winkten, als sie über uns hinwegflog. Das Flugzeug wendete und hielt Besorgnis erregend tief auf uns zu. Papa schaute zu den

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