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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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Glaube an den tödlichen Fluch spielte auf fatale Weise in dieses System hinein. Zum Beispiel: Ein Iyarike streitet sich mit einem Tigre. Kurze Zeit später stirbt jemand von den Iyarike eines natürlichen Todes. Sofort wird von den Iyarike behauptet, das müsse der Fluch bewirkt haben, den die Tigre wegen jenes Streits gegen sie ausgesprochen haben. Sie machen sich auf, den Toten zu rächen, und töten einen Tigre, der vielleicht gerade auf der Jagd war. Die Tigre im Gegenzug sind sicher, es müsse ein Sefoidi gewesen sein, der den Jäger tötete, da sie gerade einen ihrer Häuptlinge erschossen hatten. Auch sie ziehen los, um sich zu rächen, und immer so weiter. Da jeder, der zu der betreffenden Volksgruppe gehörte, unter das Gesetz der Blutrache fiel, war jedes Stammesmitglied in Gefahr, getötet zu werden – sei es Mann, Frau oder Kind.
    Und schließlich kam noch hinzu, dass die Häuptlinge verantwortlich waren, den Männern ihres Stammes Frauen zu »besorgen«. Wegen der hohen Sterblichkeit und vor allem, weil in Polygamie gelebt wurde, gab es stets einen Mangel an Frauen. So zog der Häuptling los und stahl eine Frau von einer anderen Volksgruppe oder von einem ganz anderen Stamm. Oft kam es vor, dass der Mann umgebracht und die Kinder mitsamt ihrer Mutter gewaltsam entführt wurden, um diese als Ehefrau an ein Stammesmitglied zu geben. Und das musste natürlich ebenfalls wieder gerächt werden.
    Langsam gerieten die Fayu in eine Spirale der Gewalt, einen Teufelskreis, der immer brutaler und extremer wurde. Sie trafen sich nur, um zu töten, lebten in ständiger Angst, denn keiner von ihnen konnte der Blutrache entkommen, wenn es so weit war. Immer tiefer und tiefer sanken sie, bis nur noch ein paar Hundert von ihnen übrig waren. Und so entwickelte sich eine Kultur, die allein das nackte Überleben im Blick hatte.
     
    Zwischen diesen Fronten von Hass wuchsen die Kinder heran. Sie kannten keine Geborgenheit und keine Unschuld. Mussten zusehen, wie Menschen, die sie liebten, vor ihren Augen umgebracht wurden und auf brutalste Weise gequält. Manchmal, wenn beide Eltern in einem Rachefeldzug getötet worden waren, wanderten die Kinder im Dschungel umher, bis jemand sie fand oder bis sie ebenfalls starben.
    Wir haben es selbst miterlebt. Eines Tages kam Papa ganz aufgeregt ins Haus gelaufen: »Ich muss sofort den Fluss rauffahren. Da sind drei kleine Jungs allein im Urwald!«
    Häuptling Baou hatte einen Mann und eine Frau vom Stamm der Iyarike aus Rache getötet. Im Beisein der drei Jungs hatte er beide Eltern zerstückelt und die Kinder unter Schock im Wald zurückgelassen.
    Mit Tränen in den Augen fragte ich: »Mama, können wir die drei adoptieren? Nun haben sie doch keine Eltern mehr!«
    Mama erklärte mir, dass nach dem Brauch der Fayu die Kinder von einer Familie derselben Sippe adoptiert werden müssten. Um mich aber ein wenig zu beruhigen, schlug sie vor, ich sollte den Jungs etwas schenken.
    Ich holte aus unserer Vorratskammer Fischhaken und Leinen und zusätzlich für jeden Jungen ein kleines Taschenmesser. Doch was war das schon? Ich hatte so viel Schmerz in meinem Herzen, ich wollte ihnen noch etwas Besonderes geben und opferte meinen größten Schatz: ein paar kleine bunte Glaskugeln.
    Papa fuhr mit ein paar Fayu-Männern los, um die Kinder zu suchen. Nach ein paar Stunden kam er wieder zurück, und mit ihm drei kleine Jungen zwischen drei und sieben Jahren. Angst und Entsetzen standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Aufgeregt gab ich ihnen meine Sachen und konnte sehen, dass sie sich vielleicht später einmal darüber freuen würden. Momentan waren sie vollkommen gelähmt von dem Grauen, das sie erlebt hatten, und zuckten bei jedem Geräusch zusammen.
    Fayu-Kind in einem Kanu
    Sofort wurde eine Fayu-Versammlung einberufen, und nach langem Palaver, das bis in die Nacht hinein dauerte, erklärten sich drei Familien bereit, den kleinen Diro und seine Brüder aufzunehmen. Ich stand noch lange unter dem traurigen Eindruck dieses Geschehens, und um wenigstens ein bisschen zu helfen, ließ mich Mama jeden zweiten Tag mit einer Schüssel Reis zu den Familien gehen.
     
    Mit solchem Horror vor Augen war es verständlich, dass die Fayu-Kinder stets in der Nähe ihrer Eltern blieben oder in ihrer typischen ängstlichen Haltung kauerten: sitzend gegen einen Baum gelehnt, um sich vor Pfeilen, die plötzlich aus dem Urwald kommen konnten, zu schützen. Das Spielen kannten sie nicht, Lachen kannten sie nicht,

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