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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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zur Treppe unseres Hauses. Papa fragte die Fayu, was geschehen war, und die Antwort war, dass Ohri ein »verbotenes« Stück von einem Krokodil gegessen habe. Dies sei nun seine Strafe. Sie schauten ihn nicht einmal mehr an, ignorierten ihn, als ob er nicht existierte.
    Ich fing an zu weinen, als ich sein schmerzverzerrtes Gesicht sah. Er roch nach verfaultem Fleisch. Trotzdem setzte ich mich neben ihn und hielt seine Hand. Mama hatte Ohri inzwischen auf Blätter gelegt, die wir aus dem Urwald geholt hatten. Sie brachte Verbandszeug und Medikamente, rollte ihn auf die Seite und rührte Kaliumpermanganat in lauwarmes Wasser. Langsam goss Mama die Mischung über seine Brust, und die mindestens drei Zentimeter hohe graue Pilzschicht löste sich langsam und fiel auf eines der Blätter.
    Mama spricht mit Ohri (rechts von ihr), ich höre zu
    Ohri hatte große Schmerzen, seine ganze Brust war nun eine riesige offene Wunde voller Maden. Mama nahm ein paar saubere Bettlaken, schnitt sie in breite Streifen, bestrich sie dick mit Lebertran und einer antibiotischen Salbe und wickelte Ohris ganze Brust damit ein. Jeden Tag wiederholte sie dies. Die Blätter und das gebrauchte Verbandszeug kamen in unsere Abfallgrube hinter dem Haus. Papa schüttete Petroleum darüber und warf ein brennendes Streichholz darauf.
    »Mama, wird er sterben?«, fragte ich immer wieder unter Tränen.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Mama. »Wir werden alles tun, was wir nur können, um ihn zu retten.«
    So half auch ich stets mit, Ohri zu verbinden. Wir gaben ihm zu essen, er schlief mit uns im Haus, er beobachtete uns von seinem Bett aus, wie wir unsere Schularbeiten machten. Wenn wir fertig waren, hörten wir Kassetten mit ihm und zeigten ihm die Bilderbücher, die wir mitgebracht hatten.
    Schon nach ein paar Tagen hatte er kein Fieber mehr, und wie durch ein Wunder heilte seine Brust über die Wochen, bis nur noch eine große Narbe zu sehen war. Mama gestand mir irgendwann, sie hätte nicht geglaubt, dass Ohri überleben würde. Er aber erholte sich wie der Blitz und spielte bald wieder mit uns, als wäre nichts gewesen.
     
    Langsam wuchs Ohri mit uns heran, wurde größer als ich. Wir liebten ihn, denn er hatte eine ganz besondere Persönlichkeit, war ruhig und voller Liebe zu uns und seinen Mitmenschen. Ich habe ihn niemals wütend oder unangenehm erlebt. Er wurde ein wichtiger Teil von uns allen, und als Jahre später sein Leben ein plötzliches Ende nahm, erschütterte dies mein ganzes Dasein.

Fledermausflügel und gegrillte Würmer
    I rgendwann hatte uns ein Bekannter aus Amerika ein großes Eiscreme-Poster geschickt. Was er sich dabei dachte, weiß ich bis heute nicht. Mama jedenfalls hängte es neben unserem Esstisch auf, und wir Kinder staunten.
    Ich erinnere mich noch heute genau an das Bild: Zu sehen war eine große silberne Schale mit fünfzehn oder sechzehn Kugeln Eis, jede von einer anderen Farbe. Gekrönt war das Ganze von einem Berg Schlagsahne, auf dessen Gipfel eine rote Kirsche saß.
    Wie oft wir in der sengenden Hitze von dieser Eiscreme träumten! An manchen Tagen saßen wir vor dem Poster und versuchten, die verschiedenen Eissorten zu erraten. Manchmal musste Mama dabei helfen, doch meist ließ uns unsere Fantasie nicht im Stich: Die weiße Kugel war Sago-Eis, die orangefarbene Mango, die gelbe Kugel konnte nur aus Süßkartoffeln sein, usw. Keines von uns Kindern konnte sich an den Geschmack von Eiscreme erinnern, aber es sah alles so lecker aus. Wir waren überzeugt davon, dass es das Beste war, was man auf dieser Welt essen konnte.
    Als wir Jahre später Jakarta besuchten, die Hauptstadt von Indonesien, freuten wir uns am meisten auf die Eiscreme. Mama hatte sich schon erkundigt, und tatsächlich gab es eine Eisdiele in der Stadt. Gleich nach unserer Ankunft wollten wir los und waren so enttäuscht, als Mama uns erklärte, dass das Café um elf Uhr abends geschlossen sei. Wir glaubten ihr nicht ganz, aber sie versprach, uns gleich am nächsten Morgen hinzubringen.
    Und dann endlich war es so weit: der Tag der Großen Eiscreme, wie wir ihn von da an nannten. Voller Aufregung betraten wir das Café. So viel Eis auf einmal war unfassbar, wenn man bisher nur ein Poster in einer Dschungelküche gekannt hatte. Meine Eltern, die uns lachend beobachteten, bestellten gleich den größten Becher, den der Laden zu bieten hatte. Er hieß »The Earthquake« – »Das Erdbeben«. Fünfzehn große Kugeln in verschiedenen Farben, und wir

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