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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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und rannte hinaus. Schneeflocken tanzten um meine Nase herum, und ich steckte erwartungsvoll die Zunge heraus.
    »Nicht essen!«, rief Christian ganz besorgt. »Du weißt doch nicht, ob es giftig ist!«
    Schnell spuckte ich alles aus und rieb meine Zunge am Hemd ab. Doch Judith beruhigte uns schnell. »Es ist doch nur gefrorenes Wasser«, belehrte sie uns grinsend, »so wie Eiscreme.«
    Christian schaute sie zuerst skeptisch an, doch als auch sie begann, mit ihrer Zunge Schneeflocken zu fangen, waren wir Dschungelkinder wieder beruhigt.
    Ein eigenartiger Schmerz kroch an meinem Bein hoch, und ich bemerkte auf einmal, dass ich barfuß im Schnee stand. Mit einem gewaltigen Schrei rannte ich wieder durch die Tür ins warme Wohnzimmer.
    »Siehst du«, sagte Mama gerade zu Oma, »da ist sie ja schon wieder. Na, Sabine, war’s schön …?«
    Aber ich beachtete sie gar nicht, zog schnell Mantel und Schuhe über, um den restlichen Nachmittag mit meinen Geschwistern im Schnee herumzutollen.
     
    Mama und Papa verstanden es, uns sehr langsam an die deutsche Kultur zu gewöhnen. Wir hatten keinen Fernseher, kein Radio und wurden extrem abgeschirmt.
    Trotzdem waren manche Dinge schwierig zu verstehen. Als wir zum Beispiel zum ersten Mal einen Supermarkt betraten, hörte das Staunen nicht auf. Christian brach in Tränen aus, und Judith war nicht mehr von dem Gang mit all den Schokoladentafeln wegzukriegen. Welche Sorte sollte sie nehmen? Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Schokolade gesehen! Immer wieder lief sie zurück, um noch einmal zu schauen, bis Mama ihr schließlich sämtliche Varianten kaufte.
    Ich fand die Menschen im Supermarkt genauso interessant wie das Essen. So viele weiße Menschen auf einmal waren allein schon ein Schock. Und warum waren viele von ihnen so dick? Wenn jemand bei uns im Urwald so einen dicken Bauch hatte, kam es von den Würmern.
    »Haben denn alle hier Würmer?«, fragte ich Mama.
    Sie lachte und erklärte mir, dass das eher vom vielen Essen kam. Das fand ich spannend und war neugierig darauf, ob ich auch einen dicken Bauch bekommen würde, wenn ich viel aß. Aber ich blieb spindeldürr, da wir das deutsche Essen nicht vertragen konnten. Mama kochte meistens nur das, was wir gewöhnt waren, Reis und Gemüse. Doch bei Oma gab es immer Schokolade und Kuchen.
    »Mir ist so schlecht«, jammerte ich, nachdem ich wieder mal drei Stück Kuchen hintereinander gegessen hatte.
    »Da bist du selbst schuld, Sabine«, antwortete Mama.
    Aber für uns blieb es unbegreiflich, dass es nie ein Ende hatte mit dem Essensvorrat. Einmal, als ich das letzte Stück Schokolade gegessen hatte, weinte Christian bitterlich. Also nahm Mama ihn mit zum Laden und kaufte eine neue Tafel. Als sie zu Hause ankamen, hatte Christian die ganze Schokolade bereits aufgegessen: »Nur damit Sabine es mir nicht gleich wieder wegisst!«, meinte er zu Mama.
    »Christian, im Notfall können wir doch noch eine im Laden kaufen«, belehrte sie ihn.
    »Ja, aber was ist, wenn der Laden ausverkauft ist?«, antwortete Christian ängstlich.
    »Dann bestellen sie mehr bei der Fabrik«, sagte Mama.
    »Und wenn die Fabrik keine mehr hat?«
    »Christian, die Fabrik hat immer Schokolade. Und wenn eine Fabrik keine mehr hat, dann geht man zu einer anderen.« Mama bekam langsam das Gefühl, dass noch ein weiter Weg vor ihr lag.
    Christian wurde jetzt wütend, stampfte auf den Boden und rief: »Aber wenn alle Deutschen jeden Tag Schokolade essen, dann ist sie doch irgendwann mal alle, und die Fabriken haben auch keine mehr!«
    Verzweifelt fragte sich Mama, wie sie dem Jungen eine befriedigende Antwort geben könnte. Dann hatte sie es.
    »Christian«, sagte sie zu ihm, »du hast Recht, wenn zum Beispiel ein Krieg kommt, gibt es keine Schokolade mehr.«
    »Hab ich es doch gewusst!«, rief er aus. Krieg war etwas Vertrautes, und damit war das Problem gelöst.
     
    Bei uns im Dschungel ging es ganz anders zu. Zweimal im Jahr besuchten Mama oder Papa die Hauptstadt und kauften ein: Säcke mit Reis, Gemüse in Dosen, Toilettenpapier, Schuhe und so weiter. Alle paar Monate konnte man auch eine Bestellung nach Jayapura schicken. Doch mit der Lieferung dauerte es ewig lange, die Flüge waren teuer und selten. Wenn schließlich noch ein wenig Platz auf einem Flug war, wurden die Sachen nach Danau Bira gebracht, und wir konnten sie von dort abholen. So war alles, was wir im Dschungel besaßen, rar, und auch für Mama war es am Beginn unseres

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