Dschungelkind /
Beispiel das Leben meiner Geschlechtsgenossinnen.
Es war, als würde mir plötzlich eine andere Rolle zugewiesen. Ich wanderte langsam hinüber von der Welt der Männer in die der Frauen, und je älter ich wurde, desto mehr Zeit verbrachte ich mit ihnen. Wir saßen in Gruppen zusammen oder gingen zusammen fischen, machten Sago, oder ich half den Müttern mit ihren kleinen Kindern. Ich glaube, dass dies schwierig für Tuare war. Er saß öfters in unserer Nähe, beobachtete alles, was ich tat, und schien nicht sehr glücklich über die Veränderung. Er war nicht in mich verliebt; ich hatte schon als Kind immer das Gefühl gehabt, dass ich weder männlich noch weiblich für ihn war. Ich glaube eher, dass er die kleine Sabine wiederhaben wollte, und plötzlich war ich erwachsen.
Dass ich noch nicht »gestohlen« war, wunderte die Fayu täglich mehr. Nach ihrer Einschätzung war ich ja schon alt. Nie aber hätte sich ein Fayu-Mann einfallen lassen, Judith oder mich anzurühren. Für sie waren wir von einer anderen Welt, und als mein Vater sie einmal darauf ansprach, sagten sie: »Bleibt ihr bei eurer Haut, und wir bleiben bei unserer.« Sie dürften sich niemals die Frage gestellt haben, ob ich oder meine Schwester gute Ehefrauen wären.
Umgekehrt war dies eher der Fall! Als ich Judith mal wieder zum Thema Ehe befragte, antwortete sie lachend: »Mit uns könnten sie sowieso nichts anfangen, meinst du nicht? Wir können noch nicht mal richtig Sago ernten oder Fische fangen oder Netze häkeln. Die Männer hätten Angst, dass sie ihr Essen nicht bekommen, also nehmen sie sich lieber eine Frau, die besser zu ihren Wünschen passt. Und Sabine, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du deinen Mund halten könntest, wenn dir etwas nicht passt, oder brav bei den Frauen sitzen bleibst, während die Männer jagen gehen!«
Damals musste ich über die Vorstellung, die weiße Frau eines Fayu-Kriegers zu sein, auch lachen, aber wenn ich heute tief in mich hineinschaue, bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht hätte ich durchaus in ihr Leben gepasst, vielleicht wäre es gar nicht so undenkbar gewesen, durch und durch ein Teil des Stammes zu werden. Ich glaube fast, dass es für mich einfacher gewesen wäre, mein Erwachsenenleben im Dschungel aufzubauen. Einfacher jedenfalls als das, was ich in den Jahren in Europa durchgemacht habe.
Doch zu jener Zeit beschäftigten mich solche Fragen noch nicht. Ich war einfach froh, wieder bei den Fayu zu sein und einen Teil meines Herzens wiedergefunden zu haben.
Am Abend, mit der untergehenden Sonne im Rücken, saßen wir manchmal gemeinsam am Feuer. Es war kühler als unten am Fluss, ein leichter Wind hauchte über uns hinweg, und später konnte ich am Horizont Blitze beobachten, obwohl ein klarer Sternenhimmel über uns lag. Dann erzählten die jungen Männer ihre Geschichten, meist über die Jagd und die Frauen. Hin und wieder musste ich in mich hineinlachen – Männer waren wirklich überall gleich. Zum Beispiel, wenn Bebe mir erklärte, dass er später eine Frau mit riesigen Brüsten haben wollte. Dabei stand er auf und machte eine ausholende Bewegung mit den Händen, die die gewünschten Dimensionen anzeigte.
»Bebe«, lachte ich, »so große Brüste gibt es nicht bei euch!«
»Gibt es sie denn bei euch?«, fragte er interessiert.
»Ja, aber die sind nicht echt«, antwortete ich.
»Nicht echt?« Verwirrung spiegelte sich in den Gesichtern der Jungs. Alle schauten mich an. Jetzt bereute ich, so etwas gesagt zu haben. Es war zu kompliziert, zu weit weg, einfach zu … anders.
»Vergesst es«, gab ich ihnen zu verstehen.
Während unserer Abwesenheit hatte sich eine große Änderung ergeben: Die Dschungelbasis Danau Bira war aufgegeben worden, es lebten nicht mehr genug Familien im Dschungel, um sie aufrechtzuerhalten. So kam es, dass wir nun zwischen dem Fayu-Dorf und der Hauptstadt Jayapura pendelten, wo wir uns ein Haus gemietet hatten. Inzwischen gab es dort auch eine neue Highschool, die Hillcrest International School, die wir zusammen mit ungefähr vierzig anderen weißen Kindern besuchten, die auch in West-Papua aufgewachsen waren. Das bedeutete, dass wir immer mehr Zeit in der Stadt verbrachten und nur während der Ferien mit unseren Eltern bei den Fayu leben konnten. Jayapura wurde zu einer Art Zwischenwelt für mich, zwischen der uralten Welt des Dschungels und ein wenig Zivilisation.
Eines Tages, kurz bevor die Ferien wieder einmal zu Ende gingen,
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