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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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hatten, sich zu rächen. Das hatte ursprünglich den Konflikt ausgelöst. Aber die Häuptlinge hatten nun anders entschieden. Durch die Zeremonie des gespannten Bogens und durch die Übergabe des Fleisches wurde die Versöhnung besiegelt. Zusammen würden sie das Fleisch dann braten und essen. Nakire kommentierte: »Nachdem das Feuer der Rachsucht geschluckt war, war die Tür offen zur Vergebung.«
    An diesem Tag schlossen die Iyarike und die Tigre als erste der vier Fayu-Stämme einen Frieden miteinander, der bis heute angehalten hat. Und als Judith schließlich wieder zu uns zurückkehrte, gab es ein großes Friedens- und Freudenfest.
     
    Häuptling Kologwoi (rechts) schließt Frieden mit einem Krieger vom Stamm der Tigre (links)
    Von dieser Zeit an wurde nie wieder in unserer Nähe ein Krieg ausgetragen. Häuptling Baou stellte eine neue Regel auf: Jeder, der zu unserem Haus kam, musste Pfeil und Bogen in seiner Hütte oder im Boot liegen lassen. So wurde das Gebiet, auf dem unser Haus stand, ein Ort des Friedens, ein Ort, an dem sich Angehörige aller Stämme versammeln konnten, ohne Angst zu haben, von einem Pfeil getötet zu werden. Bald zogen Fayu von allen Stämmen zu uns und fühlten sich sicher in unserer Umgebung.
    Langsam änderte sich die Stimmung im Dschungel, eine Ruhe kehrte ein, die sogar ich spüren konnte. Ein neues Zeitalter begann für dieses kleine Volk, das jahrhundertelang von der Außenwelt abgeschnitten war: eine Zeit, in der sie zum ersten Mal in ihrer Erinnerung ohne Angst leben konnten. Die Stämme fanden langsam wieder zueinander, Kinder lachten, Väter unterhielten sich friedlich miteinander, und Mütter gingen zusammen Sago ernten. Die dauernde Angst verschwand aus Tuares Augen; wir spielten manchmal tagelang, ohne dass er plötzlich in den Urwald verschwand.
    Es gab ab und zu noch Auseinandersetzungen, und danach kamen die Verletzten zu uns, um ihre Wunden versorgen zu lassen. Doch über die Jahre wurde dies immer seltener. Wenn wir im Dorf waren, kamen die Fayu aus ihren verschiedenen Gebieten und lebten gemeinsam mit uns auf der Lichtung. Fuhren wir kurzzeitig weg, kehrten sie zurück in den Urwald. Sie waren Sammler und Jäger und werden es immer bleiben – wahre Menschen des Dschungels. Aber sie hatten den Frieden, nach dem sie sich so lange gesehnt hatten, endlich gefunden.

Die Zeit vergeht
    T uare sah mich eines Tages an und meinte, lang werde es wohl nicht mehr dauern, bis ich gestohlen würde. Erstaunt fragte ich ihn, warum.
    »Da«, sagte er und zeigte auf meine wachsenden Brüste, die durch mein Hemd sichtbar waren, »du wirst zur Frau.«
    Ich schaute nach unten und war selbst ein wenig überrascht.
    Tuare fragte mich, ob ich die Fayu jetzt verlassen würde, um einen Mann zu suchen.
    »Nein«, beruhigte ich ihn lachend, »ich will noch nicht heiraten. Vielleicht in vielen, vielen Monden.« Ich war gerade zwölf Jahre alt.
    Tuare schien besorgt. Wenn ich so lang wartete, wäre ich wohl bald zu alt, und kein Mann wolle mich mehr stehlen.
    »Das macht nichts, Tuare«, antwortete ich unbeeindruckt, »dann heirate ich eben nicht und bleibe für immer hier.«
    »
Asahägo –
einverstanden«, sagte Tuare mit einem zufriedenen Kopfnicken. Und so war das Thema Erwachsenwerden für uns erst einmal erledigt.
    Ich lebte vergnügt in einer abgeschirmten Welt und konnte mir nichts anderes vorstellen. Es schien mir, als ob das Universum nur aus unserem Urwald und den Fayu bestünde. Mit den Jahren hatte ich mich von Kopf bis Fuß und mit Leib und Seele in ein Urwald-Kind verwandelt. Aber so gern ich die Zeit auch aufgehalten hätte – sie kroch dennoch ohne jegliche Rücksicht auf meine Wünsche voran.
     
    Eines Abends, im Schein der Kerosinlampe, änderte sich mein Leben. Papa erzählte uns, dass wir in Kürze auf Heimaturlaub gehen würden, zurück nach Deutschland.
    Ich war plötzlich so aufgeregt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, konnte mir diese Welt, von der ich so viel gehört hatte, nicht vorstellen. Weiße Menschen, Geschäfte, Autos, Hochhäuser, fließend warmes Wasser und Spielsachen … »Wie im Himmel muss es sein«, dachte ich mir.
    Ich stellte mir all die neuen Dinge vor, die ich kaufen würde, die vielen weißen Menschen, die mich begrüßen und mich freundlich zu sich nach Hause einladen würden. Der Gedanke war fast zu viel für mich, und ich schlief erst spät ein.
    Am nächsten Morgen informierte ich Tuare über unsere Pläne. Seine Begeisterung

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