Dschungelkind /
Fayu sich plötzlich rückwärts anstatt vorwärts entwickeln konnte.
Man weiß, dass ein Volk vom Aussterben bedroht ist, wenn das Wissen nicht von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ich kann es heute noch nicht fassen, dass kein Fayu uns von den weißen Menschen erzählt hat, die in den 40er Jahren zu ihnen gekommen waren; die Erinnerung an jene Holländer war in »unserer« Fayu-Generation offensichtlich bereits verloren gegangen.
Es ist ja nicht so, dass sie keine Zeit gehabt hätten, einander Geschichten zu erzählen. Stundenlang saßen die Männer zusammen, erzählten von der Jagd oder vom Krieg oder sprachen lange Zeit kein Wort. Auf diese Weise geht das besondere Wissen, das ein Mensch sich zeit seines Lebens erarbeitet hat, verloren. Die nächste Generation muss wieder ganz von vorn anfangen. Langsam vergeht auch das Verlangen nach Wissen überhaupt, und alles, was bleibt, ist das Überlebensnotwendige.
Und wenn dann hinzukommt, dass ein Volksstamm wie in einer Glaskugel lebt, abgeschnitten von anderen Kulturen, ohne Anregungen von außen, so wird die Rückwärtstendenz verstärkt. Die einzigen fremden Stämme, die die Fayu kannten, waren die anliegenden Kirikiri und die Dou, aber wegen des dauernden Kriegszustands mischten sie sich nicht untereinander. Kein neues Wissen drang in ihre Abgeschiedenheit, keine Idee entstand, wie sie ihre Lebensbedingungen verbessern könnten. Und was das Schlimmste war: Niemand mischte sich je in ihre Angelegenheiten.
Ich werde hin und wieder darauf angesprochen, ob es denn nicht besser gewesen wäre, wir hätten diese »glücklichen Wilden« in ihrem Paradies in Ruhe gelassen, um sie nicht schlechten Einflüssen auszusetzen.
Ich frage dann zurück, was es denn wohl für ein Paradies sei, in dem die Menschen einander abschlachten, weil sie in selbstzerstörerischen Traditionen gefangen sind? In dem Kinder tagtäglich in Angst und Schrecken leben? Ob das Paradies nicht vielleicht drauf und dran war, sich in eine Hölle zu verwandeln?
Hätten wir die Fayu, als wir diese Dinge schließlich verstanden hatten, ihrem Schicksal überlassen sollen? Unsere »Einmischung« bestand für die Fayu in einem sanften Anstoß von außen, selbst und von innen heraus Dinge zu verändern, um wieder zu einem menschenfreundlicheren Volk zu werden.
Schlechte Einflüsse werden ohnehin nicht ausbleiben. Irgendwann kommen sie auch in den abgelegensten Winkel, in das verlorenste Tal der Erde. Das Entscheidende wird sein, wie die Fayu darauf vorbereitet sind.
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei
G anz zu Anfang, als wir zu den Fayu gezogen waren, hatten wir uns manchmal überlegt, ob sie wohl Lieder kannten. Bis dahin hatten wir die Fayu noch nicht singen gehört.
Bald bekamen wir die Antwort. Wir waren gerade aus Danau Bira ins Dorf zurückgekehrt, und unsere Sachen waren mal wieder gestohlen worden. Da hörten wir Gesang von der anderen Seite des Flusses. Es war Nakire, der sang, ein wenig monoton und doch wunderschön:
»Oohhh«, sang er, »die Fayu sind wie die Vögel, ohhhh, sie picken und nehmen immer vom selben Baum, ohhh, so schlechte Menschen, oohhh, armer Klausu, arme Doriso, sie sind so traurig und fragen nach ihren Sachen, oohhh …«
Papa war begeistert, und bald wurde uns klar, dass die Fayu in jeder Situation auf der Stelle ein Lied improvisieren können. Aus nur drei verschiedenen Tönen bestand ihr Lied, mit dem sie Freude, Trauer und alle anderen Emotionen ausdrückten, die sie in diesem Moment fühlten. Es war nicht der raffinierteste aller Gesänge, doch es war ein Klang, den ich sehr früh zu lieben begann.
Vielleicht hatte es auch mit diesem Lied zu tun, dass die Fayu eigentlich keine Depressionen oder psychischen Krankheiten kannten. Allen Gefühlen wurde unmittelbar freier Lauf gelassen, und es gab sogar vorbestimmte Zeiten, in denen für den Gefühlsausdruck alles stehen und liegen gelassen wurde – wie zum Beispiel bei der Totenklage. Wenn die Zeit der Gefühle abgelaufen war, wurde ein Schlussstrich gezogen, und die Menschen lebten weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Wenn jemand eine schlimme Erfahrung gemacht hatte, lag er manchmal für Wochen in seiner Hütte, ohne ein Wort zu sagen, oder sang stundenlang vor sich hin. Während dieser Zeit wurde er mit Essen versorgt. Eines Tages dann stand er wieder auf, und kein Schock oder Trauma war zurückgeblieben. Er war wie gereinigt, strahlte über das ganze Gesicht und nahm seine Aufgaben in der
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