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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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dachte immer mehr an die Zukunft, auch was die Liebe betraf. Ich war nicht nur unsicher, zu welcher Welt ich gehörte, ich konnte auch meine Gefühle nicht mehr ordnen.
    In Jayapura war ich inzwischen in der elften Klasse, bereitete mich darauf vor, später einmal zu studieren. Dafür würde ich zurückgehen müssen in die Zivilisation. Doch der Dschungel war mein Zuhause, meine vertraute Umgebung. Obwohl – wie vertraut war das alles eigentlich noch? Im Dschungel hatte sich das Leben auch sehr verändert, zum Guten natürlich, wie das heutige Beispiel gezeigt hatte – und doch spürte ich eine Sehnsucht nach etwas, was ich nicht einordnen konnte. Auf der einen Seite sehnte ich mich nach dem ruhigen Leben, das der Dschungel bot, auf der anderen Seite nach all den Möglichkeiten, die es hier nie geben würde. Wie sollte ich im Dschungel eine Ausbildung machen? Wie sollte ich einen Mann finden? Wie sollte ich mich in eine Gesellschaft einfinden, zu der ich eigentlich nicht gehörte? Ich war doch eine Deutsche, ein weißes Mädchen von weißen Eltern. Äußerlich war ich weiß, doch was war ich innerlich? Wer war ich wirklich?

Der Tag, als Ohri starb
    I mmer wenn wieder die Ferien nahten und die Rückkehr in den Dschungel lockte, hüpfte mein Herz, und die düsteren Zukunftsgedanken waren für eine Weile weit weg.
    Wir waren nach Kordesi geflogen und fuhren von dort aus mit unserem blauen Boot ins Fayu-Gebiet. Christian und ich saßen ganz vorn auf dem Aussichtsposten. Seit wir Teenager waren und Mama sich nicht mehr täglich um unsere Körperpflege kümmerte, vergaßen wir regelmäßig, Sonnencreme aufzutragen. So auch diesmal: Als wir im Dorf ankamen, spürte ich noch nichts, doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich mich kaum noch bewegen. Christian und ich hatten schlimme Verbrennungen am Rücken. Meine Haut war schon an manchen Stellen schwarz und fiel ab wie Papier. Mama schimpfte mit uns; unsere schmerzverzerrten Mienen lösten keinerlei Mitleid bei ihr aus.
    Wenn wir gewusst hätten, was an Entsetzlichem auf uns zukam, hätten wir diesen Sonnenbrand jedoch keines Gedankens gewürdigt. Ich wundere mich heute, dass die Erinnerung daran durch das, was folgte, nicht vollkommen ausgelöscht wurde.
     
    An einem der nächsten Tage fiel Mama auf, dass Ohri uns noch nicht besucht hatte. Wir hatten ihn seit unserer Ankunft nicht gesehen.
    »Ich werde mal im Dorf fragen, wo er ist«, sagte ich. »Bestimmt hat er sich eine Frau ›gestohlen‹«, dachte ich mir dabei schmunzelnd.
    Später am Tag hörte ich prompt ein Rufen; es war Ohris Stimme.
    Ich sprang auf und lief am Haus vorbei in Richtung Dorf, um ihn zu begrüßen. Mama war mir vorausgeeilt; sie hatte sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte.
    Ich sah Mama, wie sie rannte, und sah Ohri: Er war so dünn geworden, so blass im Gesicht. Mit mühsamen, zittrigen Schritten kam er auf uns zu. Dann brach er zusammen.
    Plötzlich erschien mir alles wie in einem Albtraum; ich war nicht mehr im Geschehen, sondern beobachtete die Szene wie aus nebliger Ferne.
    Ich blieb am Rande des Dorfplatzes stehen und sah, wie Mama Ohris Kopf in ihren Schoß bettete, ihm sanft über die Wange strich.
    Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, nicht mehr den Urwald und auch die Menschen nicht – Christian, der am Rand des Hügels stand; Papa, der zu Mama lief. Ich sah nur noch Ohri, der kraftlos im Gras lag.
    Mama beugte sich zu ihm herunter. Er sagte etwas zu ihr, sie flüsterte in sein Ohr, und er lächelte schwach. Dann ging ein Zittern durch seinen Körper, er bewegte sich nicht mehr. Er war tot.
    Ich habe Mama selten weinen sehen, doch hier, mitten im Urwald, mit Ohri in ihren Armen, weinte sie. Ich sank zu Boden, es war mir, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, als ob die Vögel, der Wind, die Bäume sich nicht mehr bewegten. Ich saß dort und weinte, ich hatte meinen Bruder verloren, der doch gegen alle Widerstände immer überlebt hatte. In diesem Augenblick wurde der Boden unter meinen Füßen weggezogen. Ich fing an zu fallen.
    Ohri war an Tuberkulose gestorben, einer Krankheit aus der westlichen Welt, in den Dschungel eingeschleppt durch einen Mann vom Stamm der Dani. Ohri hatte uns ein letztes Mal sehen wollen. Das hatte er Mama ins Ohr geflüstert, bevor er starb. Es war ein schwarzer Tag für uns, ein Tag, an den ich mich am liebsten nicht mehr erinnern möchte. Ohri, der doch versprochen hatte, bei mir zu bleiben, war tot. Alles schien plötzlich ohne

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