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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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sie wurden bei jedem Ortswechsel mitgenommen. Oft kam ich in eine Hütte, und stolz präsentierte man mir die Schädel mit den Worten: »Das ist mein Onkel, das mein Großvater und hier meine Schwester …«
    Was uns hier im Westen makaber erscheinen mag, war der Weg der Fayu, die Erinnerung an ihre Lieben lebendig zu halten.

Die Schöne und das Biest
    U nsere Aussicht vom Hügel war eine ständige Quelle der Freude und des Staunens. Wir hatten den Eindruck, von hier aus könnten wir den ganzen Urwald und den ganzen Himmel sehen. Fast jeden Abend erlebten wir einen traumhaften Sonnenuntergang. Und manchmal konnte ich auch beobachten, wie der Nebel aus dem Urwald stieg. Er war unheimlich, mysteriös und mächtig. Stärker als die Millionen von Baumriesen schien der Nebel zu sein, denn er begrub sie mühelos, bis nur noch ihre Spitzen zu sehen waren.
     
    Ich wachte eines Morgens früh auf und fühlte, dass etwas Besonderes in der Luft lag. Ich kletterte aus dem Bett und schlich mich nach unten. Alles schlief noch. In der Küche wollte ich mir meine übliche Tasse Kaffee machen, doch als ich aus dem Fenster blickte, erschrak ich: Ich konnte den Boden nicht mehr sehen, alles war weiß!
    Ich ließ den Topf fallen und lief zur Tür hinaus. Der Anblick war grandios: Über mir blauer Himmel und am Horizont stand die aufgehende Sonne, deren Strahlen golden über mich hinwegstrichen. Doch am verblüffendsten war, dass unter mir kein Boden mehr zu sehen war. Dicker Nebel lag über dem ganzen Urwald und hatte unseren Hügel eingehüllt. Ich konnte kaum meine nackten Füße sehen. Vorsichtig machte ich einen Schritt, dann noch einen.
    Ich stand auf einer Wolke, wie ich es mir schon immer erträumt hatte, stand dort und fühlte mich unschlagbar, fühlte mich wunderschön, einfach unbeschreiblich. Ich stand dort, bis die Sonne den Nebel verjagte. Dieses Erlebnis habe ich bis heute nicht vergessen.
    Ich ging wieder ins Haus, machte mir endlich Kaffee und setzte mich dann nach draußen auf die Treppe. »Ja«, dachte ich mir, »hier ist es, hier ist der Ort, wo ich immer glücklich sein werde.« Und gleich darauf überkam mich Traurigkeit. Es war so seltsam: Warum hatte mir die Natur meinen Wunschtraum, einmal auf einer Wolke zu stehen, gerade jetzt und hier erfüllt? Wo ich doch immer mehr das Gefühl hatte, nicht mehr richtig hierher zu gehören?
    Plötzlich musste ich an die Zeit in Deutschland denken, an meine Großmutter in Bad Segeberg. Wie gut der deutsche Kaffee geduftet hatte im Vergleich zu der Instantbrühe, die ich gerade in der Hand hielt. Und deutsche Brötchen, wie sehr ich sie vermisste! Dick bestrichen mit Nutella … Ich dachte an das kühle Wetter und unsere Spaziergänge um den See.
    Gleich darauf bekam ich wieder ein schlechtes Gewissen. Da saß ich nun und wünschte mich in die Heimat meiner Eltern, wo mir die Natur doch gerade ein Erlebnis beschert hatte, das ich nie vergessen würde, das ich mir so lange gewünscht hatte, das nur hier, an diesem magischen Ort, zu haben war. Nein, ich hatte kein Recht, Sehnsucht nach dem fremden Land zu haben. Hier war meine Heimat. Hier gehörte ich hin.
    Wollte die Natur, mit der ich im Dschungel so verbunden war, mich an etwas erinnern? Hatte sie mir ihre Wunder offenbart, um mich für immer an sich zu binden? So musste ich hier bleiben. Denn ein Freund bleibt immer ein Freund, man hält zusammen und verlässt einander nie. Das war die Regel der Natur, wie ich sie von den Fayu gelernt hatte, die Regel des Überlebens.
     
    Nicht lange nach diesem aufwühlenden Erlebnis wachte ich unerwartet mitten in der Nacht auf. Irgendetwas stimmte nicht. Ich lauschte, konnte aber nichts hören. Vollkommene Stille lag über dem Urwald, was Gefahr bedeutete. Ich saß verwirrt in meinem Bett, noch vom Schlaf umnebelt.
    Dann hörte ich ein leises Geräusch. Ein Rauschen, das sich wie Meereswellen anhörte. Es wurde lauter, und in mir stieg Angst hoch. Immer näher, immer lauter und dann … vibrierte plötzlich alles, der Boden, das ganze Haus, mein Bett. Ich zog mir die Decke über den Kopf und war sicher, dass das Haus jetzt einstürzen würde. Wie eine Ewigkeit schien mir, was nur einige Sekunden gedauert haben konnte. Dann kehrte langsam Ruhe ein.
    Natürlich wurde mir schnell bewusst, was ich gerade gespürt hatte. Ich hatte schon mehrere Erdbeben miterlebt, niemals aber etwas so Mächtiges. Der Dschungel war zu einem gewaltigen, rauschenden Meer von Wellen geworden. Es war

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