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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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wollte, schritt plötzlich der Vater ein. Er hatte Angst, denn er verstand nicht, was ich mit seinem Baby vorhatte. Mir fiel ein, dass die Fayu ihre Babys nie wuschen – der Fluss war zu kalt dafür.
    Ich kümmerte mich immer gern um den Nachwuchs meiner Fayu-Freunde (hier mit dem jüngsten Kind von Häuptling Kologwoi)
    »Ich tu deinem Baby nichts«, versuchte ich zu erklären, »im Gegenteil, der Schmutz ist schlecht für die Kleine!«
    Doch er war nicht einverstanden. »Das ist gefährlich«, meinte er aggressiv und zeigte zum Wasser.
    »Nein«, widersprach ich, »fühl mal mit der Hand.«
    Vorsichtig tauchte er seine Hand ins Wasser und schaute erstaunt, als er die Wärme spürte. Nach vielem Hin und Her erlaubte er mir endlich, dass ich sein Kind badete; die Mutter war von vornherein einverstanden gewesen.
    Alle umringten mich und beobachteten gespannt diese neue Vorgehensweise. Ich legte das kranke Baby ins Wasser; es wurde sofort still und schien die Wärme zu genießen. Hinter mir hörte ich ein »Uhh« und »Ahh« – mein Publikum war begeistert.
    Nachdem ich das Kind gewaschen hatte, legte ich es in ein trockenes Handtuch und gab es der Mutter zurück. Ich fragte, ob das Baby schon einen Namen hatte.
    »Nein«, sagte man mir, »sie hat noch keine Zähne …«
    Am nächsten Morgen kam die Mutter zu unserem Haus, um mir zu zeigen, dass ihr Baby kein Fieber mehr hatte und wieder trank. Glücklich ging ich durch den Tag und schlief so zufrieden ein wie schon lange nicht mehr.
    Doch als ich wieder aufwachte, hörte ich Trauerlieder. Ich wusste sofort, was passiert sein musste: In der Nacht war das Baby gestorben. Ich saß im Bett und weinte, erdrückt von der Verantwortung. Warum hatte ich nicht mehr getan? Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich fühlte mich so hilflos, machtlos. Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich das Sterben und den Tod, mit denen ich viel häufiger konfrontiert war als ein Kind im Westen, als etwas Natürliches hingenommen. Warum war ich jetzt so betroffen?
    Im Rückblick glaube ich, dass ich schon vom westlichen Prinzip der »Machbarkeit« beeinflusst war. Ich war wütend, dass ich nichts hatte tun können, um das Schicksal zu wenden.
     
    Ich ging nach draußen, Papa war schon da. Die Mutter hielt ihr totes Baby im Arm, wiegte es hin und her und sang ein Trauerlied. Den ganzen Tag und die Nacht hindurch hielt die Klage an, ich schlief ein mit dem Klang der Stimmen, die draußen vor unserem Haus das Todesritual zelebrierten, und wachte mit ihnen wieder auf.
    Drei Tage dauerte die Trauerzeit, und am dritten Tag ging die Frau mit ihrem Mann in den Urwald. Ich folgte ihnen mit Ohri. Wir kamen zu einer Lichtung, wo der Vater des verstorbenen Babys schon ein Todeshaus gebaut hatte. Die Fayu hatten vor einiger Zeit aufgehört, die Körper in ihren eigenen Hütten verwesen zu lassen. All die Bakterien und Insekten, die davon angezogen wurden, hatten kleine Kinder und ältere Menschen in Lebensgefahr gebracht.
    Stattdessen bauten sie nun ein hohes Gestell im Urwald. Vier lange hölzerne Stäbe wurden in den Boden gerammt und ganz oben eine Plattform gebaut, worauf sie die Leiche legten. Ich bemerkte, dass zusätzlich zwei lange Pfeile im Boden steckten, die über die Leiche und die Plattform hinausragten. Ich fragte Ohri, der neben mir stand, was das bedeutete.
    »Die Pfeile helfen den Geistern, den Toten zu finden«, gab er zurück.
    Ich beobachtete, wie die Mutter ihr Kind auf die Plattform legte, und dazu legte sie das Einzige, was dem Kind gehörte: das Handtuch, worin ich das Baby eingewickelt hatte.
    Tränen liefen mir die Wangen herab. Ich fühlte mich so schrecklich. Ohri hielt fest meine Hand und sagte ganz leise: »Sei nicht traurig, kleine Schwester, ich werde dich nie verlassen.«
    Ich drückte seine Hand, so froh, dass er bei mir war.
     
    Papa war erstaunt darüber, dass nur so kurz um das Baby getrauert worden war.
    Die Fayu erklärten ihm, dass sie dieses Kind noch nicht gut gekannt hatten: »Wir waren mit ihm niemals jagen, haben nie Essen mit ihm geteilt oder uns mit ihm unterhalten. Dieses Baby hat noch nicht einmal Zähne gehabt.«
    So ist die Trauerzeit in der Fayu-Kultur vom Alter des Verstorbenen abhängig. Je älter der Tote, umso länger trauerten sie, bei alten Menschen oder Häuptlingen manchmal wochenlang. Die Knochen, die nach dem langen Verwesungsprozess schließlich übrig blieben, wurden in den Hütten aufgehängt, wie man bei uns Fotografien aufstellt, und

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