Dschungelkind /
zu regieren, sondern um zu dienen.
Ich stand am Rand des Dorfes und sah einen Mann und eine Frau in der Mitte der Lichtung auf dem Boden sitzen. Ihre Hände waren gebunden. Die beiden hatten eine »Affäre« miteinander gehabt, obwohl sie mit anderen Partnern zusammenlebten, im Fayu-Sinne also als verheiratet galten.
Gespannt schaute ich zu, was jetzt passieren würde. Zuerst hielt Häuptling Kologwoi eine Rede und sagte, dass die beiden etwas Falsches getan hatten. Er redete und redete, es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Doch als er fertig war, war dies noch lang nicht das Ende. Als Nächstes stand Nakire auf und sagte in einer ebenso langen Rede ungefähr dasselbe wie Häuptling Kologwoi. Die Sonne stieg und brannte schließlich hoch am Himmel. Nach und nach wurden von verschiedensten Stammesmitgliedern Reden gehalten, alle bekräftigten das, was schon gesagt wurde, und verdammten den Ehebruch. Endlich, am späten Nachmittag, war die Zeit für Häuptling Kologwoi gekommen, seine Strafe zu verkünden.
Ein Fayu-Ehepaar
Ich hatte Durst und Hunger. Es verblüffte mich immer, wie lange die Fayu ohne Wasser auskamen. Vor allem die beiden, die in Fesseln auf dem Boden saßen, taten mir Leid. Sie schauten die ganze Zeit über beschämt zu Boden.
Häuptling Kologwoi stand auf, er hatte entschieden. Die Strafe bestand darin, dass beide Wiedergutmachung leisten mussten. Jeder musste dem betrogenen Ehepartner der anderen Seite Geschenke geben, bis er zufrieden war, und so geschah es: Der Schuldige brachte dem Mann seiner Geliebten Messer, Pfeile und ein Schwein, bis der Betrogene nickte. Die Frau brachte Sago, Netze und Kleidung und gab alles der Frau ihres Geliebten.
Inzwischen war es schon dunkel geworden, aber ich saß immer noch am Feuer, von wo aus ich alles beobachten konnte. Ehebruch war selten hier im Dschungel. Ich fragte Papa, ob es Liebe zwischen den Ehepartnern gab.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß, »außer bei Nakire und Fusai habe ich noch nichts davon gesehen. Sie küssen oder umarmen sich nie öffentlich. Wenn ich die Männer bitte, sie sollen für ein Foto den Arm um ihre Frauen legen, lachen sie und benehmen sich wie schüchterne Kinder.«
Ich dachte meinerseits an die Situationen, die ich miterlebt hatte, in denen Männer ihre Frauen einfach mit einem Pfeil anschossen, weil sie wütend waren. Es sprach alles dafür, dass die Fayu eher zum Überleben heirateten denn aus Liebe …
Und die Sexualität wurde äußerst diskret behandelt. Wenn ein Mann eine Frau gestohlen hatte, verschwand er einfach ein paar Tage mit ihr im Dschungel, bis sie ihn als Mann akzeptierte.
»Was machen sie eigentlich, wenn sie mehrere Frauen haben und mit einer von ihnen schlafen wollen?«, fragte ich Papa weiter.
»Auch dann gehen sie in den Urwald mit ihr«, antwortete Papa, »aber die Polygamie gibt es im Grunde nicht mehr. Die älteren Männer, die früher immer die jungen Mädchen wegschnappten, um sie als Zweit- oder Drittfrau zu nehmen, haben beschlossen, diese den jungen Männern zu überlassen.«
»Eine weise Entscheidung«, dachte ich. Alles passte zusammen: Wenn keine Frauen mehr geraubt wurden, wurde weniger getötet, weniger gerächt, kam es zu weniger Kriegen.
Doch dass es keine Liebe zwischen Männern und Frauen geben sollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Ich hatte während meines kurzen Aufenthalts in Amerika ein paar Filme gesehen, in denen es nur um Liebe, Gefühle und Sex ging. Das konnte doch nicht auf die westliche Welt beschränkt sein? Auch Mama und Papa waren glücklich zusammen, doch sie hatten beide dasselbe Ziel im Leben gehabt und liebten das, was sie taten. In meinem fünfzehnjährigen Hirn drehte sich alles; ich war froh, dass ich noch zu jung war, um ans Heiraten zu denken.
Häuptling Kologwoi schaute sich nun die mitgebrachten Geschenke an und fragte die Betrogenen, ob es zur Genugtuung reichte. Alle Parteien waren zufrieden, und von diesem Tag an war alles vergessen und vergeben.
In der Fayu-Kultur war Ehebruch eine ernste Sache. Wir haben niemals erlebt, dass eine Affäre anhielt; sie wurde schnell beendet und flammte nie wieder auf. Ich glaube, man muss strenge Regeln aufstellen, wenn man in so beengten Verhältnissen lebt wie die Menschen im Urwald. Um unter solch harten Bedingungen zu überleben, braucht man einander, muss zusammenhalten, sonst ist man verloren.
Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich abends in meinem Bett lag. Ich
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