Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
Vom Netzwerk:
Bedeutung. Alles, woran ich geglaubt hatte, woran ich festhielt, war weg.
    An diesem Abend starrte ich unaufhörlich in die Flammen, in denen Ohris Hütte verbrannte, die er so liebevoll gebaut hatte, und alles andere, was ihm gehörte. Mit Tränen in den Augen verfolgte ich, wie ein Teil meines Lebens verschwand, in Flammen, die alles verschlangen und mit sich nahmen. Das Feuer nahm auch einen Teil meines Herzens mit. Ohri, der so lange überlebt hatte, so mutig und stark war, hatte sich immer nach dem Leben gesehnt. Warum musste ausgerechnet er sterben?
     
    Tagelang hatte ich Kopfschmerzen, und plötzlich stellten sich die Albträume ein. Ich sah Ohri in seiner Hütte verbrennen, sah, wie die Flammen seinen Körper umzüngelten. Ich versuchte in diesen Träumen verzweifelt, ihn aus dem Feuer zu retten, sah ihn schreien und um Hilfe rufen. Doch ich konnte ihn nicht erreichen und musste stets von neuem mit ansehen, wie er verbrannte.
    Immer wieder hatte ich diesen Albtraum, immer wieder versuchte ich ihn zu retten – vergebens. Ohri, der an ein gutes Leben geglaubt hatte, Ohri, der heiraten wollte und eine Familie gründen, der mir Halt und Frieden in meinem Leben gegeben hatte, würde nie wieder zurückkehren.
     
    Es war an einem Mittwochnachmittag, nicht lang danach. Ich lag auf meinem Bett und versuchte zu schlafen, da mich in der Nacht zuvor wieder einmal Albträume geplagt hatten. Die Hitze schien unerträglich, und ich spürte, wie sich mein Hals auf einmal zuschnürte. Ich bekam keine Luft mehr.
    »Nein, nein, nein!«, schrie es in meinem Kopf.
    Doch meinen Mund konnte ich nicht bewegen, er war so trocken.
    Ich wollte Ohri retten, aber diesmal sah ich die Flammen auf mich zukommen. Ihre Hitze brach über meinen Körper herein, und ich spürte regelrecht, wie meine Hände anfingen zu brennen. Eine gewaltige Angst stieg in mir hoch. Ich schrie. Wie ein wildes Tier schlug ich um mich und versuchte die Flammen zu löschen. Mein ganzer Körper schmerzte, doch ich kämpfte verbissen weiter.
    Da merkte ich, wie sich ein Paar kühle Arme um meinen Körper legten und mich ganz fest hielten. Von weitem hörte ich Mamas Stimme: »Sabine, Mama ist da, halte dich an mir fest. Es ist gleich vorbei …«
    Immer wieder sprach sie beruhigend auf mich ein, bis mein Schreien zu einem haltlosen Schluchzen wurde. Lange saßen wir so zusammen, bis es dunkel wurde.
    »Ich kann nicht mehr hier bleiben«, flüsterte ich Mama zu.
    »Ich weiß«, antwortete sie traurig.
    Während sie weiterhin zärtlich die nassen Haare aus meinem Gesicht strich, hörte ich Papas Stimme neben mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er zu uns getreten war.
    »Onkel Edgar hat angeboten, dich auf einem Internat in der Schweiz unterzubringen. Möchtest du das annehmen?«, fragte er.
    Stumm nickte ich.
    Nicht nur mein Umfeld, sondern auch meine Einstellung zu Tod und Leben hatten sich plötzlich komplett verändert. Noch konnte ich das nicht begreifen – das Einzige, was mich in diesem Moment umtrieb, war der Wunsch, so weit weg wie möglich zu flüchten vor diesen Albträumen. Ich wollte weg von den Flammen, weg von dem Schmerz, weg von dieser Welt, einfach nur weit weg.
    Sosehr mir die Vorstellung vor einem ganz neuen Leben auch Angst machte, ich hatte mich dazu entschlossen und war bereit, allein auf die andere Seite der Welt zu reisen.
     
    Ich blickte ein letztes Mal über die unendliche Weite des Dschungels hinweg, sah die mächtigen Bäume, eine grüne Woge bis zum Horizont. Ich hörte das Singen der Vögel, das Zirpen der Insekten, sog den wundervollen Duft noch einmal tief in meine Lungen ein. Und dann, mit einem letzten Blick zurück, schritt ich den Hügel hinunter.
    Hinter mir ertönten die Trauerlieder meines Stammes. Die Fayu sahen zu, wie das kleine Mädchen, das sie vor Jahren bei sich im Dschungel aufgenommen hatten, sie jetzt verließ. Sie weinten und trauerten, sangen mir zu, ich solle doch bleiben, sie liebten mich doch so sehr. Tuare stand ganz vorn, und ich höre noch seine vertraute Stimme, die sich zu einem Trauerlied erhob: »Ohhh, meine Schwester, oohh, warum verlässt du mich?«
    Mit tränenverschmiertem Gesicht lief ich weiter und verließ Ende 1989 den Dschungel von West-Papua, Indonesien.
     
    Ein Jahr zuvor bereits war meine Schwester nach England gereist, um ihr Kunststudium aufzunehmen. Ein Jahr später würde auch Christian den Urwald verlassen, um an einer Universität in Hawaii zu studieren. Und so hatte unser

Weitere Kostenlose Bücher