Dschungelkind /
gemeinsames Leben im Urwald ein Ende gefunden. Wir waren als Familie durch dick und dünn gegangen, hatten miteinander gespielt und uns Geschichten erzählt, hatten uns gestritten und uns immer geliebt. Und jetzt war dieses Idyll zerbrochen, durch unser Erwachsenwerden, durch das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit. Ein Abschnitt meines Lebens war unwiderruflich vorbei.
Mein neuer Stamm
W ieder einmal träumte ich. Flammen züngelten um mich herum, versuchten mich zu verschlingen. Ich hörte Ohris Schreie, wollte ihn retten, doch ich kam nicht durch. Ein schmerzerfülltes Gesicht, eine Hand, die sich hilfesuchend nach mir ausstreckte – dann brach alles zusammen, und ich sah nur noch Asche auf dem Boden.
Es wurde immer kälter, alles war von Dunkelheit umhüllt. Ich suchte nach Wärme, nach Licht. Panik und Verzweiflung brachen sich Bahn, ich konnte nicht mehr atmen, schnappte nach Luft … es war so kalt, so kalt …
Ruckartig wurde ich wach und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Ich schaute mich um, alles war immer noch dunkel. Dann kam die Erinnerung wieder: der Flug nach Deutschland, der verwirrende Bahnhof in Hamburg und der Zug, in dem ich mich jetzt befand und der mich in die Schweiz ins Internat bringen sollte. Ich war auf dem Weg in mein neues Leben!
Fröstelnd wickelte ich meinen Mantel enger um mich. Die Landschaft draußen flog an mir vorbei, es wurde heller draußen, und ich hatte Glück: Mein erster Tag als Europäerin würde ein sonniger Tag werden.
Ein paar Stunden später war ich am Ziel. Freunde von Mama und Papa holten mich am Züricher Hauptbahnhof ab und fuhren mich mit dem Auto nach Montreux, zum Internat. Schnell waren wir am Genfer See, und meine Aufregung stieg. Ich hatte die Prospekte der Schule immer wieder durchgelesen, hatte die Bilder im Detail studiert. Es war ein Mädcheninternat und gleichzeitig eine »Finishing School«: Ich sollte dort mein Abitur machen, dabei aber auch soziale Umgangsformen lernen. »Eine richtige Dame werden«, so hatte es mein Onkel ausgedrückt und damit wohl gemeint, dass es Zeit für mich wäre, die Dschungelmanieren abzulegen.
Der Genfer See lag vor uns in all seiner Pracht. Berge umsäumten ihn, Häuser waren am Ufer und die Hügel hinauf verstreut. Die Sonne strahlte, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft fühlte ich mich etwas besser.
Bald stand ich vor dem Internat, einem kleinen grauen Schloss direkt am See. »Château Beau Cèdre« sagte das Schild über dem Eingang – mein neues Heim. Eine große Tür wie aus dem Mittelalter öffnete sich knarrend, und wir wurden von einer jungen Frau begrüßt, die französisch sprach. Ich verstand kein Wort und lächelte nur freundlich zurück.
Wir wurden in eine Eingangshalle geleitet, wo eine breite Treppe nach oben führte. Ich fühlte mich wie in einem Traum. Es war alles so elegant und luxuriös, ich hatte so etwas noch nie in meinem Leben gesehen. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, alte Ölgemälde hingen an den Wänden, die Möbel waren mit teurem Stoff überzogen. Ich wagte es nicht, mich hinzusetzen, sondern staunte nur meine neue Umgebung an.
Bald waren alle Formalitäten erledigt, und ich wurde auf mein Zimmer begleitet. Es war ein großer Raum mit vier Betten; zwei davon waren schon belegt, von einem deutschen und einem australischen Mädchen, wie mir gesagt wurde. Ein Balkon mit einem fantastischen Ausblick direkt auf den Genfer See lag vor unserem Zimmer. Ich bekam den Mund nicht mehr zu.
Es war wie im Bilderbuch. Die Trauer, der Dschungel, die Fayu, meine Familie, alles verschwand in Windeseile irgendwo in den Tiefen meiner Erinnerung, um später umso schmerzhafter wieder aufzutauchen. Jetzt aber war ich in einer anderen Welt angelangt, einer Welt, die neu und spannend war. So viel zu sehen, so viel zu erforschen – ich hatte das Gefühl, das größte Abenteuer meines Lebens hatte gerade erst begonnen.
An diesem Abend saß ich auf meinem Bett, ganz mitgenommen von all dem, was ich an diesem Tag gesehen hatte. Kopfschmerzen plagten mich, doch ich ignorierte sie. Ich ging auf den Balkon, schaute über den blauen See und dachte unwillkürlich: »Was würde Tuare denken, wenn er mich jetzt sehen könnte?«
Der Gedanke an Tuare machte mich traurig, aber ich ließ es nicht zu.
»Nein«, wies ich mich zurecht, »ich werde es alles vergessen. Ich will nicht mehr daran denken. Ich bin jetzt da, wo ich eigentlich hingehöre – schließlich ist meine Haut weiß, meine Haare sind
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