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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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glühender Sonne im Fayu-Dorf und schreibe dir im Schweiße meines Angesichts einen fünf bis sechs Seiten langen Brief. Einen Tag später kommen wir nach Jayapura, und zu meinem größten Entsetzen merke ich, dass ich den Brief an dich im Dschungel vergessen habe! In diesem Brief hatte ich dir sehr ausführlich beschrieben, wie ein großer Tausendfüßler Papa ins Ohr gebissen hat. Und wie Papa in hohem Bogen aus dem Bett bis fast an die Decke sprang. Mit diesem Sprung wäre ihm bei den nächsten zwanzig Olympiaden die Goldmedaille sicher gewesen!
    Als Papa mich am nächsten Tag fragte, was ich mir denn gedacht hätte, als er gebissen wurde, musste ich ihm leider sagen: ›Ich habe gedacht, was ein Glück, dass es nicht mich erwischt hat!‹ Da musste Papa lachen. Ihr wisst ja alle, ich bin ein ehrlicher Mensch. Und deshalb sag auch du ehrlich, mein Schatz: Wie geht es dir? Ich vermisse dich so sehr. Ob ich mich wohl je daran gewöhnen werde, dich nicht mehr täglich um mich zu haben?«
    Lächelnd tauchte ich wieder bei den Mädchen auf. Meine Mutter hatte es geschafft, mit einem Tausendfüßler ein Stück Dschungel in die Schweiz zu bringen …
    Doch Leslie schaute mich kritisch an.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Du brauchst unbedingt einen neuen Haarschnitt«, stellte sie fest, »deine Frisur sieht schrecklich altmodisch aus. Und deine Kleidung! Wir müssen was dagegen machen.«
    Und so gingen wir am Nachmittag los. Erst zum Friseur, wo ich gleich losweinen wollte, weil meine Haare plötzlich so kurz waren – aber Leslie versicherte mir, dass dies jetzt Mode sei. Dann weiter zu den Geschäften. Bald darauf trug ich dieselben Hosen, Hemden und Schuhe wie meine Freundin. Die Betreuerinnen im Internat schmunzelten über unser Unternehmen, doch ich fühlte mich endlich wirklich angekommen.
    Auch ein Paar neue Stiefel hatte ich mir gekauft, halbhoch und vorne spitz zulaufend, nach Cowboyart. Ich war mächtig stolz auf diese Errungenschaft. Und so wie ich es auch im Dschungel jahrelang getan hatte, saß ich jeden Morgen auf dem Boden und schüttelte die Schuhe aus, bevor ich sie anzog. Susanne und Leslie beobachteten mich kopfschüttelnd.
    »Sabine, was machst du da eigentlich?«, fragten sie eines Tages vorsichtig.
    Endlich konnte ich ihnen mal etwas beibringen! Ich erklärte, dass gefährliche Insekten sich gerne in Schuhen verkrochen und dass es übel ausgehen könne, wenn man sie vor dem Anziehen nicht ausklopfte.
    »Aber – sooo gefährliche Insekten gibt es hier eigentlich nicht …«, grinste Susanne.
    Ich glaubte ihr nicht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, keine Insekten oder Spinnen mehr in meinen Schuhen zu finden. Erst nach einigen Monaten – ich war gerade wieder beim Ausschütteln – starteten die Mädchen einen neuen Versuch:
    »Sabine«, fing Leslie an, »in der ganzen Zeit, die du jetzt hier bist – hast du da jemals ein Insekt in deinen Schuhen gefunden?«
    Ich überlegte. Überraschenderweise: nein.
    »Dann versuch doch morgen einfach mal, sie ohne Ausklopfen anzuziehen«, schlug sie vor.
    Am nächsten Morgen überlegte ich einen Moment, und dann, zum ersten Mal in meiner Erinnerung, zog ich meine Schuhe einfach an. Es war ein eigenartiges Gefühl. Ich kniff die Augen zu, schob meinen Fuß hinein und erwartete einen Stich. Doch es passierte nichts. Ich öffnete die Augen wieder, stolz, auch diese Mutprobe überstanden zu haben.
    »Meine liebste Sabine!
    Das Leben ist so anders hier ohne euch. Christian ist jetzt in Hawaii, um zu studieren. Nachdem er weg war, ging ich durch das leere Haus und fragte mich ernsthaft, wie es nun weitergehen sollte. Ihr seid zwanzig Jahre lang meine größte ›Aufgabe‹ gewesen. Alles andere kam für mich erst an zweiter Stelle, auch wenn die zweite Stelle oft mehr an Zeit und Aufmerksamkeit verlangte.
    Da hatte ich eines Morgens DIE Idee. Die Fayu-Kinder saßen mal wieder gelangweilt herum, besonders die größeren. Diro ist inzwischen ihr Anführer geworden. Es schien mir schon länger, als hätte sich eine bestimmte Gruppe von Jungen von ihren Familien abgesondert und ließe sich überhaupt nichts mehr sagen. Und dann hatte ich es: Warum eröffnete ich nicht eine Fayu-Schule, um den Jugendlichen eine Beschäftigung zu geben?
    Beim nächsten Besuch in der Stadt habe ich sofort Schreibhefte, Zeichenblöcke, Malstifte und Bleistifte besorgt – alles, was man eben für eine Schule braucht. Gleich als ich zurück war, rief ich alle Kinder zusammen, gab

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