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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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winken.
    Fünf Minuten später stand ich immer noch am selben Platz. Die Angst war einfach zu groß. Die Mädchen berieten sich und hatten immer neue Ideen, wie sie mich über die Straße kriegen könnten, doch vergebens: Ich lief einen riesigen Umweg, bis ich endlich eine Ampel fand. Von diesem Tag an wussten alle, dass man Straßenüberquerungen mit mir weit im Voraus planen muss. Und bis heute habe ich noch Angst vor dem brausenden Verkehr der Städte.
     
    Doch in mancher Hinsicht hatte ich meinen Freundinnen auch etwas voraus.
    Madame Etiquette nannten die Mädchen unsere Lehrerin, die uns gutes Benehmen beibringen sollte: wie man sich kleidet, wie man einen Tisch für verschiedene Anlässe deckt, wer zuerst begrüßt wird, wie man in elegantem Stil Treppen hinunterläuft oder mit kurzem Rock aus einem Auto aussteigt …
    Beim Mittagessen saß sie immer an wechselnden Tischen und achtete auf unsere Manieren.
    Bei meinen kläglichen Versuchen, elegant zu essen, schüttelte sie den Kopf und meinte: »Sabine, du wirst nie eine perfekte Dame, aber mit deinem Charme wirst du das hoffentlich gut kaschieren können.«
    Das Essen war nicht immer nach meinem Geschmack. Viele Gerichte kannte ich nicht und stocherte skeptisch mit meiner Gabel darin herum. Doch jeden Freitag gab es Eis zum Nachtisch, das Lieblingsdessert der meisten Mädchen, und natürlich auch meins.
    Ich bemerkte schnell, dass die Leute hier keinen starken Magen hatten. So fing ich an, kurz bevor das Essen serviert wurde, Geschichten über unsere Lieblingsspeisen im Urwald zu erzählen. Oder wie die Fayu ihre Toten in den Hütten aufbahrten, und die Körperflüssigkeiten … Am Ende hatte ich jedenfalls meist nicht nur eine Portion Eis auf meinem Teller, sondern mehrere. Bald wollte freitags sogar niemand mehr mit mir am Tisch sitzen. Ich genoss das viele Eis, solange es ging, bis mir schließlich verboten wurde, während des Essens über den Urwald zu reden.
    Doch Madame Etiquette lachte lange darüber, sie hatte viel Humor. Sie war in einem reifen Alter, hatte schon viel erlebt und viele Mädchen erzogen. Doch ich war selbst für sie ein »Einzelstück«, erzählte sie mir später.
    Bei unserer dritten oder vierten Unterrichtsstunde mit ihr mussten wir ein Blatt durchlesen. Ich hatte eine Frage und hob die Hand.
    »Sabine«, sagte sie, »du brauchst die Hand nicht zu heben, du kannst mich einfach ansprechen. Eine Dame hebt nämlich ihre Hand nicht.«
    »Okay«, erwiderte ich und machte einen neuen Versuch: »Madame Etiquette?«, meldete ich mich laut.
    Alles hörte auf zu lesen, es herrschte schockierte Stille.
    »Was ist? Warum schaut ihr mich alle an?«, fragte ich verwirrt.
    »Sabine«, sagte unsere Lehrerin streng, »
wie
heiße ich?«
    »Madame Etiquette«, antwortete ich mit Selbstverständlichkeit.
    Jetzt krümmten sich alle in ihren Stühlen vor Lachen. Ich schaute verdutzt um mich; selbst die gute Madame hatte Mühe, ernst zu bleiben.
    »Nein, Sabine, so heiße ich definitiv
nicht
«, korrigierte sie mich. Und da wurde mir erst bewusst, dass die Mädchen sie nur hinter ihrem Rücken so nannten. Doch keine war auf die Idee gekommen, dass mir der alte Schülerbrauch des Spitznamens fremd war …
    Madame nannte mir ihren richtigen Namen, den ich aber bald wieder vergaß. Für mich wie für alle anderen Mädchen war und blieb sie Madame Etiquette, man sagte es nur nicht laut. Das wäre schlechtes Benehmen gewesen.
     
    In ihrer Schule im Fayu-Dorf kämpfte Mama mit anderen Problemen:
    »Meine liebe Sabine,
    das Schulhaus ist jetzt fertig, und wir konnten letzte Woche umziehen! Ein paar Helfer haben einfache Bänke gezimmert, und wir haben zwei Klapptische aufgestellt, die wir von der Küste mitgebracht hatten. Papa hat sogar eine Wassertonne neben der Schule platziert, wo sich die Kinder vorher waschen können.
    Ich bin vom ersten Tag an streng gewesen. Die Kinder sollten begreifen, dass Lernen auch mit Disziplin zu tun hat. Du weißt ja, wie deine Mutter in dieser Beziehung eingestellt ist …
    Auf jedes Heft habe ich mit Bleistift den Namen des jeweiligen Schülers geschrieben. Die Bleistifte durften sie mitnehmen und sollten sie am nächsten Tag wieder mitbringen. Man muss sich vorstellen, dass die Kinder noch nie einen Bleistift und ein Heft besessen haben!

    Der Claas Dua habe ich Malstifte gegeben, und sie mussten Kreise, Ovale und Vierecke zeichnen. Die Kleinen haben freudig mit den Stiften herumexperimentiert. Für meine großen Jungen

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