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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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hatte ich Glaskugeln mitgebracht und bat nun jeden, mir fünf Stück davon zu geben. Jeder der fünfzehn Schüler griff ins Glas und gab mir einfach eine Hand voll Murmeln. Sie können ja nur bis drei zählen, und danach gibt es keine Zahlwörter mehr, nur noch eine Hand oder eine Hand und ein Fuß, und so weiter. So fing ich an, ihnen die Zahlen von eins bis fünf und dann weiter bis zehn auf Indonesisch beizubringen. Ich schrieb sie in jedes Heft, und die Jungs sollten dann weiter üben. Zwei Tage später hatten sie das ganze Heft voll geschrieben! Das ging weiter so, bis ich in kürzester Zeit neue Hefte aus der Stadt bestellen musste. Ich staune nur so über den Fleiß, den sie an den Tag legen.
    Ich habe jetzt auch bemerkt, dass es große Unterschiede in der Intelligenz gibt. Abusai war so langsam, dass ich ihn in die Claas Dua einstufen wollte. Aber da kamen die anderen Jungen der Claas Tiga und bettelten mich an, das nicht zu tun. ›Na gut‹, sagte ich, ›dann helft ihm bei den Hausaufgaben.‹
    Ich sah sie dann unter meinem Guavabaum sitzen und alle mit ihm üben. Der arme Junge hatte gar keine Wahl, sie ließen ihn einfach nicht weg. Und siehe da, es dauerte nicht lange, und er hatte die anderen eingeholt. Er ist noch immer ein sehr langsamer Schüler, aber ich lasse ihn in der Claas Tiga.«
    Im Internat wurden nun die Stundenpläne verteilt. Das war etwas ganz Neues für mich. Ich starrte auf das Blatt Papier. Jeder Tag war anders, einmal ein Fach am Morgen, dann wieder am Nachmittag, und dazu jeden Tag eine völlig andere Kombination!
    Wie einfach war es doch im Dschungel, dachte ich mir. Jeden Tag dieselben Fächer, und ich durfte immer selbst entscheiden, ob ich mit Mathe oder mit Englisch anfing. Auf der Highschool in Jayapura hatte es wohl mehrere Fächer gegeben, aber die Lehrer waren immer dieselben und hielten ihre Schäfchen beieinander. Hier musste ich mir selbst helfen. Ich bekam Angst. Wie sollte ich das alles nur wieder schaffen, mich an so viel auf einmal erinnern?
    Für einen Deutschen ist es vielleicht schwer zu verstehen, dass mich ein Stundenplan in Panik versetzen konnte. Doch ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch niemals exakte Zeitpläne einhalten müssen. Im Dschungel galt: Komm ich heut nicht, komm ich morgen …
    In dieser Nacht hatte ich wieder einmal Albträume, träumte, dass ich meinen Stundenplan verloren hätte, von einem Zimmer zum anderen lief und verzweifelt fragte, ob ich hier richtig wäre.
    Tatsächlich vergaß ich auch einmal eine Unterrichtsstunde, und gleich brach mir wieder der Schweiß aus. Ich kam zu spät, und die Lehrerin schimpfte mich aus.
    Nach der Stunde nahm ich meinen Mut zusammen, entschuldigte mich bei ihr und versuchte ihr mein Problem zu erklären. Von da ab wurde sie eine meiner Lieblingslehrerinnen. Sie gab Französisch, und da ich schon mehrere Sprachen in meinem Leben gelernt hatte, war es keine große Sache, noch eine draufzusetzen. Französisch war wesentlich leichter als die Fayu-Sprache.
    Und als ich dann meinen ersten Freund hatte, der nur Französisch sprach, gab es kein Halten mehr …
     
    Leslie und Susanne arbeiteten weiter fest daran, mich zu »zivilisieren«. Es gab in Montreux eine Bar mit Billardtischen. Von Anfang an begeisterte mich dieses neue Spiel, und für eine Anfängerin war ich gut. Wir gingen öfters dorthin, aber wenn ich nicht Billard spielen konnte, hatte ich ein Problem: Die anderen unterhielten sich über Themen, von denen ich keine Ahnung hatte.
    Wer um Himmels willen waren die Beatles? Wer war George Michael, oder wie hieß er noch, Elton George, nein, Elton John? Über Spielfilme wusste ich genauso wenig, kannte keine Schauspieler außer Tom Cruise. Eine Freundin, die einmal auf Besuch in Indonesien war, hatte mir damals Bilder von ihm gezeigt und geseufzt, wie sehr sie in ihn verliebt sei. Ich war verwirrt gewesen: Sie kannte ihn doch nicht persönlich, wie konnte sie sich in ihn verlieben? Ich hatte noch nie davon gehört, dass man ein »Fan« sein und aus der Ferne schwärmen konnte, und habe lange daran arbeiten müssen, um dies zu verstehen.
     
    Und als ich in der Schweiz meine erste Einladung ins Kino bekam, fragte ich doch tatsächlich, was denn ein Kino sei!
    Leslie zog mich schnell zur Seite und klärte mich auf. Aber ich bekam langsam das Gefühl, dass man mich für etwas beschränkt hielt, und so schritt ich selbst zur Tat: Jeden Montag ging ich in einen kleinen Laden ganz in der Nähe der Schule und

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