Dschungelkind /
blond und meine Augen grün. Dies ist meine Welt, Europa ist meine Herkunft, und dies ist meine neue Heimat!«
In diesem Augenblick fasste ich den tapferen Entschluss, dass ich alles über diese neue Welt lernen wollte. Ich wollte so werden wie eine Europäerin, wollte so denken wie sie, mich benehmen wie sie und wie sie aussehen. Dies war jetzt mein neuer Stamm.
Mit diesem Gedanken ging ich zu Bett, und das erste Mal seit Wochen wurde ich nicht von Albträumen geplagt.
Château Beau Cèdre
U nd ich stürzte mich ins pralle westliche Leben. Aufgewachsen an einem der ursprünglichsten Flecken der Erde, brannte ich darauf, meine Lebenserfahrung nun bei den Reichen der Welt zu erproben!
In der ersten Woche ging ich mit ein paar Mädchen einkaufen. Die Schule hatte offiziell noch nicht angefangen, und wir wollten Montreux ein wenig erkunden. Wir gingen in einen Supermarkt. Ich weiß nicht mehr, was ich kaufen wollte, erinnere mich nur noch, dass es zehn Schweizer Franken kosten sollte.
»Hm«, dachte ich mir, »viel zu teuer!« Ich ging zur Kassiererin und sagte ihr, dass ich ihr fünf Franken geben würde.
Sie schaute mich verblüfft an. Die Mädchen, die schon gemerkt hatten, dass ich irgendwie anders war, kamen schnell und zogen mich weg.
»Was machst du da, Sabine?«, wisperten sie.
»Dieser Preis ist doch viel zu hoch, ich will ihn runterhandeln«, antwortete ich mit großer Selbstverständlichkeit.
»Das kannst du nicht machen, du musst das zahlen, was auf dem Preisschild steht!«
Ich verstand nichts mehr. Handeln war doch das Normalste von der Welt! In Indonesien hatten wir immer gehandelt, es war sogar wichtig, um die Preise zu stabilisieren.
»Ja, aber wer entscheidet denn, wie viel etwas kosten soll?«, fragte ich. Die Mädchen sagten mir, dass es der Verkäufer der Ware entscheide.
Das war doch wohl unfair. Er konnte ja irgendeinen Fantasiepreis angeben, und ich musste ihn bezahlen … Als ich den Mädchen meine Argumente vorlegte, wussten sie bald selbst nicht mehr, was sie antworten sollten.
Ich verließ den Supermarkt fast wütend, fühlte mich irgendwie hintergangen. Obwohl ich natürlich schon damals im Heimaturlaub einkaufen war, hatten Mama und Papa immer bezahlt, und ich hatte mir nie Gedanken gemacht, wo die Unterschiede lagen. Das hatte ich jetzt auf vielen Gebieten nachzuholen.
Als ich am nächsten Tag mit zwei Mädchen am »Bord du Lac« spazieren ging, begrüßte ich freundlich alle, die uns begegneten. So wie ich es im Dschungel ebenfalls getan hatte – aus gutem Grund. Manche grüßten zurück, andere schauten mich nur skeptisch an.
Nach einer Weile fragte mich eins der Mädchen, wie ich es bloß geschafft hätte, in so kurzer Zeit so viele Menschen kennen zu lernen?
Ich schaute sie erstaunt an. Ich kannte überhaupt niemanden außerhalb der Schule!
»Und warum begrüßt du dann alle?«, fragten sie mich.
»Das macht man doch so«, antwortete ich.
Sie lachten. »Also, hier begrüßt man nur die Menschen, die man persönlich kennt!«
Und wieder hatte ich etwas gelernt, das ich nicht verstand. Beim nächsten Passanten kniff ich die Lippen zusammen und sagte nichts. Doch ich hatte ein schlechtes Gewissen, empfand mich als unhöflich und unzivilisiert. Wenn man jemanden im Urwald traf, so begrüßte man sich, oder man brachte einander um. Lange Zeit hatten es die Fayu so gehalten, und so war mir eingeschärft worden, dass es allemal sicherer war, jedem Hallo zu sagen.
Nach diesen Erlebnissen hatte ich meine ersten kleinen Kulturschocks weg.
Als ich am Nachmittag zurück ins Internat kam, waren meine Zimmergenossinnen schon da: Leslie aus Australien und Susanne aus Deutschland. Wir verstanden uns sofort und unterhielten uns bis spät in die Nacht, da wir alle drei sehr gesprächig waren. Leslie hatte gottlob sofort bemerkt, dass ich viel zu lernen hatte. Sie nahm sich vor, sich meiner Unwissenheit anzunehmen, und über die nächsten Monate wuchs eine enge Freundschaft zwischen uns.
Ein paar Tage später bekam ich meinen ersten Brief aus Indonesien. Jeden Tag nach dem Mittagessen wurde die Post verteilt, und wir standen alle vor dem Esszimmer und warteten sehnsüchtig darauf, dass unser Name aufgerufen wurde. Ich ging gleich auf mein Zimmer und riss Mamas Brief gespannt auf – der einzige Faden, der mich noch mit dem Urwald verband …
»O Tochter der Morgenröte, du Freude meines Herzens. Du wirst kaum glauben, was mir passiert ist: Da sitze ich bei
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