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DSR Bd 4 - Das Schattenlicht

DSR Bd 4 - Das Schattenlicht

Titel: DSR Bd 4 - Das Schattenlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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worden. Sie lag da wie ein weggeworfener Gegenstand – wie ein Bündel Abfall, das achtlos beiseitegeschleudert worden war.
    Benedict stand regungslos da, beobachtete sie, wie es schien, aus einer Distanz und wusste nicht, wie er den schrecklichen Abgrund überqueren sollte, der sich zwischen ihnen geöffnet hatte. Schließlich taumelte er nach vorn, kniete sich nieder, nahm seine Mutter bei den Armen und half ihr auf die Füße. In ihrer Trauer klammerten sie sich aneinander.
    Wie viel Zeit verstrich, während sie so in dem Garten standen, konnte nicht gemessen werden; denn die Zeit war stehen geblieben. Als Xian-Li den Kopf hob und ihre Augen wieder öffnete, tat sie es, um hinauszuschauen auf eine Welt, die sich vollständig und radikal verändert hatte. Niemals wieder würde die Welt für sie Befriedigungen und Freuden bereithalten, die sie kannte und liebte. Niemals wieder würde die Welt ihre Heimat sein. Wie konnte das auch sein? Der Mann, den sie liebte – der ihr Leben war –, war gestorben.
    Während Xian-Li über die furchteinflößende, klaffende Wunde weinte, die plötzlich ihre Seele zerrissen hatte, gestattete sie es, ins Haus geführt zu werden, wo sie auf einen Stuhl neben dem Küchentisch fiel. Die Köchin und die Haushälterin huschten umher in dem Versuch, Mittel und Wege zu finden, um ihre Herrin zu trösten. Xian-Li – taub gegenüber allem, was um sie herum geschah – setzte sich nicht dagegen zur Wehr, doch sie begegnete den Bemühungen mit der ruhigen Hinnahme einer Verdammten, die letztendlich begriffen hatte, dass die Zeit kurz und das Leben flüchtig und nichts von Bedeutung war – mit Ausnahme von dem, was ewig währte.
    Die Köchin, die aufgeregt hin und her flatterte, brachte eine braune Flasche zum Vorschein und goss ein geringes Maß an saurem Apfelmost in eine Tasse, die sie ihrer Herrin in die Hände drückte. »Macht, dass Ihr was davon runterkriegt«, riet sie. »Da wird’s Euch besser gehn.«
    Ohne nachzudenken, hob Xian-Li die Tasse an ihre Lippen. Der beißende Apfelmost attackierte ihren Mund und ihre Kehle und brachte sie zum Husten, aber er bewirkte, dass ihre Sinne klar wurden. Sie schaute sich um, als würde sie aus einem Traum erwachen. Dann sah sie Benedict und griff nach seiner Hand, packte sie und drückte sie hart, als wollte sie sich selbst versichern, dass wenigstens er noch voll und ganz lebendig war.
    »Es tut mir leid, Mutter. Sie haben alles getan, was sie konnten – niemand hätte mehr tun können.« Er kniete sich neben ihren Stuhl, und die Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte, flossen nun reichlich. »Ich habe auch alles getan, was ich konnte.«
    Xian-Li zog ihn in ihre Arme und hielt ihren Sohn – der nun wirklich ein junger Mann war, aber noch nicht zu alt, um sich dem Trost ihrer Umarmung zu verweigern –, während er die Quelle seiner Trauer leerte und zum Schluss seinen Kopf hob. Sie wies die Köchin mit einem Handzeichen an, mehr Apfelmost zu bringen, und dann setzte sich Benedict auf einen Stuhl neben ihr nieder. »Ich will wissen, was geschehen ist«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ich muss alles wissen.«
    »Er wurde am Kopf getroffen … Es gab einen Kampf, und er wurde getroffen …«, begann er.
    »Schsch!« Seine Mutter legte ihm ihre Finger auf die Lippen, danach reichte sie ihm die Tasse mit dem Apfelmost, den die Köchin eingeschenkt hatte. »Trink zuerst. Dann beginn mit dem Anfang. Überstürze nichts. Es gibt keinen Grund, sich zu beeilen.«
    Benedict gehorchte: Er nahm einen großen Schluck von der scharf schmeckenden Flüssigkeit und zwang sich selbst, im Geiste zu der Zeit und dem Ort zurückzugehen, wo die Tragödie anfing. »Wir kamen im Tempel an und speisten mit Anen«, begann er; seine Stimme fand ihre Kraft wieder, während er in Gedanken die Geschehnisse erneut erlebte. »Während des Mahls erzählte uns Anen, dass es irgendeine Art von Schwierigkeiten gab – das Volk war zornig –, und wir erörterten, ob Vater und ich bleiben oder nach Hause gehen sollten. Ich wünschte, wir wären nach Hause gegangen …« Seine Augen suchten ihr Gesicht. »Ich wollte nach Hause, doch …«
    »Du konntest es nicht wissen«, sagte Xian-Li zu ihm. »Fahr fort.«
    »Die Priester reisten hoch zur neuen Stadt des Pharaos, um mit ihm zu reden – um zu sehen, ob sie die Angelegenheiten mit ihm abklären konnten. Wir fuhren mit ihnen zusammen. Der Pharao traf uns, aber er weigerte sich, zuzuhören; und dann, als wir weggingen,

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