Du bist das Boese
2002 gewann eine Serie von Straftaten, die auf das Konto von Einwanderern aus Nicht-EU-Staaten gingen, »politische Relevanz«. Auf Drängen der Bevölkerung und einzelner politischer Parteien beschloss die Regierung, der Squadra mobile in den größeren Städten eine Sondereinheit Ausländer an die Seite zu stellen. Diskret wurde beim amtierenden Innenminister Pasqualis Name für die Rolle des obersten Koordinators der Polizeipräsidenten ins Spiel gebracht, und zwar sowohl von Mitgliedern der Mehrheitspartei als auch von solchen der Opposition. Seine Kandidatur wurde parteiübergreifend begrüßt: ein fähiger und ausgleichender Mann und ein hervorragender Polizist, der auch ein Gespür für politische Belange hatte.
Andrea Floris, der Polizeipräsident von Rom, war mithilfe der Linken ins Amt gekommen. Er kannte Balistreris neofaschistische Vergangenheit, wusste aber auch, dass ebendieser Balistreri, der drei Jahre lang erfolgreich die Mordkommission geleitet hatte und ein Altersgenosse von Pasquali war, sich am besten für die fragliche Position eignete. Er bat den Innenminister um ein Gespräch zu dieser Frage, wurde aber an den zuständigen Untersekretär verwiesen, der ihn seinerseits an einen Assistenten durchreichte, einen jungen Kerl von nicht einmal dreißig, der frisch von einer renommierten Universität kam. Und der gab zu bedenken, dass eine Kandidatur Balistreris aufgrund seiner früheren Aktivitäten bei den Rechtsextremen und beim Geheimdienst doch für großes Befremden sorgen würde, besonders im Mitte-Links-Lager, in dem der Polizeipräsident politische Unterstützung genoss. Floris entgegnete, dass sie über Dinge redeten, die dreißig Jahre zurücklagen. Balistreri habe sich freigekauft, indem er dem Land unter Einsatz seines Lebens gedient habe, und halte sich seit Langem aus der Politik raus. Der junge Mann war nicht überzeugt und fand Balistreris Distanz zur Politik im Gegenteil »verdächtig«. Außerdem benutze Balistreri noch Ausdrücke wie »Heimat«, »Ehre« und »Rechtschaffenheit«, was doch nun wirklich Relikte aus der Vergangenheit seien, ein völlig überholtes Vokabular und ziemlich verstaubt noch dazu, schloss der junge Mann. Der Polizeipräsident, der das politische Kasperletheater in Rom inzwischen kannte, gab schließlich nach: Jemanden wie Balistreri wollten sie eben nicht auf dem Posten, einen, der sie nicht ernst nahm, der ihre Galaempfänge in den exklusivsten Restaurants und Clubs nicht besuchte und den Journalisten nicht Rede und Antwort stand – einen Einzelkämpfer, der den Zenit seines Lebens bereits überschritten hatte.
Immerhin gelang es Floris, eine Bedingung an Pasqualis Nominierung zu knüpfen: An der Spitze der Sondereinheit von Rom, welche die wichtigste war, wollte er Michele Balistreri sehen. Pasquali mochte diesen Polizisten, der sich um ein gutes Verhältnis zur Politik nicht scherte, überhaupt nicht, aber er akzeptierte ihn, um sich bei Floris einzuschmeicheln. Den würde er nämlich noch brauchen. Gleichzeitig verhinderte er durch diesen Schachzug, dass Balistreri in die vierte Einheit der Squadra mobile wechselte, wo die politisch brisanten Fälle von Betrug, Korruption und Bilanzfälschung landeten. Die Sondereinheit von Rom übertrug er ihm in der Hoffnung, dass Balistreri sich dort die Finger verbrannte und er ihn dann durch eine Person seines Vertrauens ersetzen könnte. Zweieinhalb Jahre lang machte Balistreri seine Sache verdammt gut.
Dann kam der Fall R.
23.–24. Juli 2005
Samantha Rossi warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war halb neun abends. Durch das offene Fenster im ersten Stock drangen das letzte Tageslicht und der spärliche Lärm der Autos, die auf dem Weg ans Meer oder aufs Land waren. Dieser lange, heiße Tag beendete eine scheinbar endlose Arbeitswoche. Sie schaltete den Herd aus, goss die Brühe in eine Suppenschüssel und streute Parmesan darüber. Nur wenig allerdings, denn der Kardiologe hatte Assunta, der Neunzigjährigen, der sie zur Hand ging, den Verzehr von Käse verboten. Sie stellte die Suppe auf den abgeblätterten Resopaltisch und fütterte sie langsam, Löffel für Löffel.
Um Punkt zehn vor zehn würde Samantha ihren Rucksack nehmen, Assunta zum Abschied einen Kuss geben, auf die andere Seite des Platzes laufen, in den Bus Richtung Stazione Termini steigen und dort in den Regionalzug nach Ostia. Um elf würde sie bei ihren Eltern in ihrem Haus am Meer ankommen.
Um acht Uhr abends war in der Kneipe die
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