Du bist das Boese
müsse mal kurz zur Toilette.«
Ich hätte mit dir zu Alessandrini hochgehen sollen, aber ich war blind mit meinen tränenden Augen. Die Müdigkeit, der Qualm, der Alkohol, die gleißende Sonne an diesem Nachmittag, das verrückte Verlangen, Elisa zu sehen …
»Ich weiß, Angelo. Ich habe den Kardinal gestern angerufen. Er verstand meine Frage nicht, aber er konnte sich daran erinnern, dass du zur Toilette gegangen bist.«
Angelo setzte seine überflüssigen Erklärungen fort.
»Ich ging nicht zur Toilette, sondern runter zu Elisa. Ich wollte mit ihr reden, sie beruhigen, sie trösten. Eine halbe Minute später war ich in der zweiten Etage. Die Tür war verschlossen, was seltsam war. Mittlerweile wissen wir ja, dass Manfredi sie abgeschlossen hatte. Ich öffnete mit meinem Schlüssel. Elisa lag reglos auf dem Boden, halb nackt, Augen und Wangenknochen geschwollen. Sie blutete aus einer Schnittwunde an der Brust. Auf dem Tisch entdeckte ich einen angefangenen Brief an Paul, in dem von uns beiden die Rede war, von der Abtreibung. Ich steckte ihn ein, und dann verlor ich den Kopf.«
Valerio hielt sie für tot. Manfredi schwört, sie sei nur verletzt gewesen. Einer der beiden lügt also oder irrt sich.
Das waren Corvus Worte nach der eingehenden Analyse der Alibis gewesen. In Wirklichkeit hatten beide die Wahrheit gesagt. Als Manfredi ging, lebte sie noch, und als wenige Minuten später Valerio kam, war sie tot.
»Du warst auf dem Weg nach oben, Michele. Ich hatte eine halbe Minute, eine einmalige Gelegenheit.«
Ich hätte es sofort wissen müssen, als ich dich auf dem Treppenabsatz sah. Du hast gezittert und warst dann diese ganze furchtbare Nacht über so erschüttert und verzweifelt. Ich hätte es wissen müssen, als ich die Blume auf Margheritas Schreibtisch verwelken sah. Du hast alles getan, um es mir zu verstehen zu geben, auf deine Weise.
Angelo Dioguardi lächelte ein letztes entschuldigendes Lächeln.
»Da lag dieses Kissen auf ihrem Bürostuhl, das hab ich genommen. Eine halbe Minute später habe ich dich oben auf dem Treppenabsatz begrüßt.«
Man kann sein ganzes Leben in einem einzigen Augenblick von Wahnsinn wegwerfen. Ein Kissen auf dem Gesicht eines fast toten Mädchens. Ein Boot auf dem Meer vor der afrikanischen Küste und ein Junge im Taucheranzug.
Ich wusste, dass er in all diesen Jahren jeden Tag an Elisa gedacht hatte. Dass der Kummer ihrer Eltern ihn Nacht für Nacht quälte. Dass er, im Gegensatz zu mir, seine Schuld wenigstens teilweise zu begleichen versuchte, indem er Gutes tat, wo es nur ging. Aber ich wusste auch, dass seine Hände nach diesem Kissen gegriffen hatten.
Die ersten Tropfen fielen. Ich warf einen Blick auf die zwitschernde Vogelmutter, die immer noch hektisch um ihr verletztes Kind herumsprang. Das Gewitter war ganz nah, ein Donnerschlag erschütterte den Berg, und plötzlich brach das Zwitschern ab. Das Vögelchen lag reglos da. Seine Mutter sah mich fragend an.
Jeder von ihnen hätte beim ersten Mal an meiner Stelle sein können.
Diesen Satz hatte Manfredi dei Banchi di Aglieno geschrieben, die Verkörperung des Bösen, das wir alle gejagt, in die Falle gelockt und schließlich beseitigt hatten. Das Böse, das in einem einzigen Anfall von Wahnsinn begonnen hatte.
Ein heftiges Unwetter brach los. Wir blieben schweigend sitzen, während das matte Tageslicht immer schwächer wurde. Der Regen lief uns über Haare, Gesicht und Rücken bis in die Schuhe hinein. Irgendwann gingen, eins nach dem anderen, in den winzigen Häusern unten im Tal die Lichter an.
Die Schwalbenmutter betrachtete ein letztes Mal das leblose Vogelkind. Dann hob sie sich in die Lüfte und flog davon. Sie war nicht glücklich, aber sie zwitscherte.
Ich danke dem Team des Marsilio Verlags, ganz besonders Marco Di Marco und Jacopo De Michelis, nicht nur für die große Professionalität, sondern für die außerordentliche Leidenschaft, mit der sie ihre Arbeit tun. Filiberto Zovico und Chiara De Stefani danke ich, dass sie mich sicher durch mir unbekanntes Terrain geführt haben.
Und ich danke meinen ersten drei Lesern, den Einzigen, die schon während des Entstehens mit ihrer Geduld und ihren wohlwollenden Ratschlägen zu diesem Buch beigetragen haben: meiner Frau Milena und meinen wunderbaren Freunden Valeria und Fabrizio.
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