Du bist das Boese
rieb sich regelrecht an dem Lärm draußen auf dem Platz. Touristen, die sich schweigend durch die Seitenschiffe schoben. Ein paar italienische Familien mit Kindern, die ihre Eltern Richtung Ausgang zerrten. Gleich würde die Messe beginnen.
Linda zeigte auf die Sitzreihen mit den Kniebänken, und sie nahmen in einer ruhigen Ecke Platz. Sie sah sich in aller Ruhe um, als wären sie gekommen, um die Kirche zu besichtigen. »Kennen Sie die Geschichte der heiligen Agnes, Dottor Balistreri?«
»Erzählen Sie sie mir?« Sein Interesse hielt sich in Grenzen, doch er war auch noch nicht bereit, sie ohne Umschweife um das zu bitten, was er von ihr wollte.
»Der Sohn des Präfekten von Rom hatte sich in die Christin Agnes verliebt, ohne auf Gegenliebe zu stoßen. Aus lauter Kummer über die Ablehnung wurde er ernsthaft krank. Was meinen Sie, was der Präfekt da tat?«
Balistreri versuchte einen Scherz. »Er verliebte sich ebenfalls in Agnes.«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Präfekt, der wusste, dass Agnes das Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, schickte sie zu den Vestalinnen der heidnischen Göttin, die die Stadt Rom beschützte.«
»Aber Agnes weigerte sich.«
»Genau. Agnes weigerte sich, und der Präfekt ließ sie in ein Freudenhaus sperren. Langweile ich Sie, Dottor Balistreri?«
Ihm gefiel weder die Geschichte noch die Art, wie Linda sie erzählte. Irgendwie fühlte er sich fast wie ein Komplize dieses Präfekten.
»Weigerte Agnes sich da ebenfalls?«, fragte er, wohl wissend, dass dem nicht so war.
»Frauen können sich fast immer weigern, aber sie können sich nicht gegen die körperliche Überlegenheit von Männern wehren. Agnes hatte Glück. Alle kannten den Grund, warum sie dort war, und so wagte es lange Zeit kein Bordellbesucher, sie anzurühren. Bis sich ein Blinder in sie verliebte. Der Legende nach soll er von einem Engel so zugerichtet worden sein, und Agnes wollte beim Allmächtigen Fürbitte einlegen, damit er sein Augenlicht wiederbekam. Prompt wurde sie der Hexerei bezichtigt«, fuhr Linda fort.
»Das war wohl ihr eigentlicher Fehler, meinen Sie nicht? Eine unnütze Provokation der Macht, eine Anmaßung. Wollte sie einen Blinden, der sie liebte, heilen, oder wollte sie dem Volk die Allmächtigkeit ihres Gottes zeigen?«
Die Frau sah ihn schweigend an, ohne jede Feindseligkeit. Es schien, als versuche sie ihn durch seine Reaktion auf diese Geschichte besser zu verstehen. Irgendwann sprach sie weiter.
»Vielleicht ging es Agnes weniger um die Heilung des Blinden als darum, die Schwäche der Mächtigen und die Stärke der Verfolgten zu offenbaren. Jedenfalls hat man sie ausgezogen und ihr mit dem Schwert die Kehle durchgeschnitten, so wie man es mit den Lämmern machte.«
Sie erzählte das alles ohne Emphase, wie das Märchen von Schneewittchen. Nur ihr Blick hatte sich verdunkelt, als hätten sich schwarze Gewitterwolken darin zusammengeballt.
»Ich ermittle im Fall des Verschwindens einer jungen rumänischen Prostituierten«, verkündete Balistreri übergangslos, auch um das Thema zu wechseln.
Linda Nardi sah ihn verblüfft an. »Verzeihung, aber das verstehe ich jetzt nicht. Sie waren es doch, der sagte, dass in der Welt der Einwanderer aus Nicht- EU -Ländern die Grenze zwischen Opfern und Tätern fließend sei.«
Dieser Satz ist mir während einer hitzigen Pressekonferenz herausgerutscht, nach wer weiß wie vielen absurden Fragen von Journalisten wie dir.
»Dottoressa, Sie verwechseln Rassismus mit statistisch belegten Erfahrungswerten. In diesem Fall geht es um ein sehr junges Mädchen aus Rumänien und …«
»Dottor Pasquali wird es sicher nicht gutheißen, dass der Chef der Sondereinheit seine Zeit mit solchen Belanglosigkeiten verplempert«, unterbrach sie ihn.
»Deshalb muss ich Sie um einen Gefallen bitten. Leider kann ich Ihnen im Gegenzug nichts dafür bieten.«
Sie ließ sich das sorgfältig durch den Kopf gehen. »Ich tue aber nichts Illegales.«
»Ich bin derjenige, der sich eine kleine Gesetzwidrigkeit zuschulden kommen lässt. Sie gehen nicht das geringste Risiko ein.«
»Und Sie vertrauen mir?« In dieser Frage schwang keine Ironie mit. Nur Verwunderung.
Ich muss wahnsinnig sein, aber es ist der einzige Weg. Nur sie kann Pasquali Angst einjagen.
»Die Umstände zwingen mich dazu. Aber Sie erfahren von mir keine Details zu den Ermittlungen, bevor …«
»Das verlange ich auch gar nicht. Ich muss ebenfalls mit Ihnen reden. Über etwas anderes. Aber nicht hier und
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