Du bist in meiner Hand
»Non. Je ne veux pas de problèmes«, erklärte er, ehe er sein Fenster rasch wieder schloss, aufs Gaspedal trat und davonfuhr. Verzweifelt blickte Sita dem Lieferwagen einen Moment nach. Dann drehte sie sich um und rannte los. Schon nach wenigen Metern aber hatte Dmitri sie eingeholt und hob sie einfach hoch. Sie schlug und trat nach ihm, doch er hielt sie fest umklammert. Nachdem er sie auf den Rücksitz des Mercedes verfrachtet hatte, setzte er sich wieder ans Steuer und stieg aufs Gaspedal. Schluchzend vergrub Sita das Gesicht in den Händen. Beinahe hätte sie es geschafft! Wenn sie doch nur nicht eingeschlafen wäre! Oder wenn sie eine andere Straße genommen hätte! Warum war sie nicht gleich um Mitternacht aufgebrochen? Sie weinte vor sich hin, bis der Wagen vor der Wohnung hielt. Dmitri sprang aus dem Wagen und tippte den Code ein, woraufhin die beiden Flügel des Tores weit aufschwangen und er den Mercedes auf den Hof fuhr.
Als der Wagen erneut zum Stehen kam, blickte Sita hoch. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Neben ihr saß Natalia. Ihr Gesicht sah schrecklich aus. Ihre Schminke war völlig verschmiert, ihr Haar zerzaust, und ihre blauen Augen waren stark gerötet, als hätte sie geweint.
Sie streckte die Hand aus und wischte Sita sanft die Tränen aus dem Gesicht. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke in gegenseitigem Mitgefühl. Dann war der Moment vorüber, denn Dmitri riss die Tür auf und zerrte Sita an den Haaren aus dem Wagen.
21
Die menschliche Natur ist aus Glauben gemacht.
Ein Mensch ist wie das, was er glaubt.
BHAGAVAD GITA
Paris – Frankreich
Ein paar Minuten vor acht traf Thomas am großen Torbogen der Porte Saint-Denis ein. Abends sahen die Straßen des zehnten Arrondissements ganz anders aus. Obwohl das Licht der Straßenlaternen die städtische Szenerie in ein warmes Licht tauchte, erinnerten ihn die Schatten an all die Dinge, die im Verborgenen blieben.
Julia erschien pünktlich und begrüßte ihn mit einem Küsschen auf beide Wangen. Thomas führte sie die Rue du Faubourg-Saint-Denis entlang und deutete auf den Eingang der Passage. In dem Moment fiel ihm über dem schmiedeeisernen Tor ein Schild auf, das ihm am Nachmittag entgangen war. Passage Brady, lautete die Aufschrift.
»Waren Sie hier schon mal?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ins Zehnte hat es mich noch nicht so oft verschlagen.«
Obwohl Montag war, herrschte in der Passage reger Betrieb, und alle dort untergebrachten Restaurants waren schön beleuchtet. Die einzige Ausnahme bildete das erste Lokal – das, in dem die füllige Inderin am Putzen gewesen war. Mittlerweile war ein Vorhang vor die Fenster gezogen, und in der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: »Fermé jusqu’à nouvel ordre.« Bis auf Weiteres geschlossen.
Thomas sah Ajit im Eingang seines Lokals stehen. Als der seinerseits Thomas entdeckte, begann er übers ganze Gesicht zu strahlen und begrüßte ihn überschwänglich. Julia überschüttete er mit Komplimenten. Dann führte er die beiden zu einem von Kerzen beleuchteten Fenstertisch und pries die schöne Aussicht. Zum Schluss reichte er ihnen die Speisekarten und versprach, sie an diesem Abend mit dem besten Essen von Paris zu verwöhnen.
»Auf den haben Sie offenbar großen Eindruck gemacht«, stellte Julia lachend fest, als Ajit davonflitzte, um einen anderen Gast zu begrüßen.
Nachdem sie gewählt hatten, bestellten sie bei einer jungen indischen Kellnerin, die gleich darauf mit zwei Gläsern Rotwein an ihren Tisch zurückkehrte.
»Erzählen Sie von Washington«, forderte Julia ihn auf, bevor sie ihren Wein kostete. »Ich bin in Reston aufgewachsen, aber seit dem College nicht mehr dort gewesen«, fügte sie hinzu. »Meine Eltern leben inzwischen in Boston.«
Thomas verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, sie mit Geschichten über Skandale und politischen Amtsmissbrauch aus dem Klatschteil der Washington Post zu erheitern. Einmal fragte sie ihn nach seiner Familie, doch er lenkte ihre Aufmerksamkeit geschickt in eine andere Richtung. Priya erwähnte er nicht, und Julia besaß genug Taktgefühl, um nicht nachzubohren. Während sie Thomas’ Erzählungen lauschte und dabei gelegentlich einen Schluck Wein trank, schien sie sich in ihrer Haut recht wohlzufühlen.
Als schließlich ihre Bestellungen eintrafen, widmeten sie sich eine Weile ganz dem Essen. Dann erzählte Julia ihm von ihren Jahren in Columbia, wobei sie auch ein paar lustige Anekdoten über Andrew
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