Du bist in meiner Hand
schüttelte den Kopf. »Es ging alles viel zu schnell.«
»Ich besorge Ihnen den Durchsuchungsbeschluss.« Sie zückte bereits ihr Handy. »Diesmal lassen wir der BRP nicht den Vortritt.«
22
Die Zeit, die meine Reise dauert,
ist lang, und der Weg weit.
RABINDRANATH TAGORE
Paris – Frankreich
Wenige Minuten zuvor hatte Sita frierend und voller Angst neben dem schwarzen Mercedes im Hof gestanden und zugesehen, wie Dmitri sich hinters Steuer schwang und den Wagen anließ. Während der Motor mit leisem Brummen zum Leben erwachte, setzte Shyam sich hinten in die Mitte, Onkel- ji stieg von der anderen Seite zu, und Tante- ji hievte sich neben Dmitri auf den Beifahrersitz. Sita stieg als Letzte ein. Sie holte tief Luft und musste dabei an die Flugtickets denken. Mittlerweile ging sie davon aus, dass diese Tickets nicht nur für Onkel- ji , Tante- ji und Shyam bestimmt waren. Eines davon war für sie selbst.
Nachdem sie neben Shyam Platz genommen hatte, richtete sie den Blick aus dem Fenster und versuchte die pochende Platzwunde an ihrem Kopf zu ignorieren. Sie konnte sich noch genau an jeden einzelnen Schritt erinnern, den sie in der Nacht zuvor über den Hof getan hatte. Natalia war vorausgegangen und hatte sich immer wieder ängstlich über die Schulter umgeblickt. Dmitri hatte sie, Sita, an den Haaren in die Wohnung gezerrt, in der die Mädchen gefangen gehalten wurden, die Treppe hochgeschleift und in Natalias Zimmer mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert, während Natalia ihn anflehte, Gnade walten zu lassen. Sita sah wieder Dmitris Gesicht vor sich, nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. Sein heißer Atem hatte nach Alkohol gestunken, als er ihr die Worte zuflüsterte, die sie niemals vergessen würde.
»Ich weiß, dass du im Kellerraum warst. Würdest du hierbleiben, dann würde ich dir schon zeigen, was für Spaß man dort haben kann. Aber Wasily hat mit Dietrich eine Abmachung getroffen, bei der noch viel mehr für uns herausspringt.«
Natalia verschwand zusammen mit Dmitri und kehrte wenige Minuten später in T-Shirt und Boxershorts zurück. Sie stillte die Blutung an Sitas Kopf mit Papiertüchern, die sie aus einer Schachtel auf der Kommode zog, und wollte ihr anschließend das Bett überlassen, doch Sita schüttelte den Kopf. Nachdem sie sich ganz am Rand niedergelassen hatte, blieb genug Platz für das ukrainische Mädchen. Natalia legte sich neben Sita und nahm sie fest in den Arm.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Dmitri ist schrecklicher Mann.«
Als Dmitri Sita am Morgen holen kam, warf er ihr einen braunen Wollmantel aufs Bett.
»Von Tatiana«, erklärte er voller Abscheu. »Wenn es nach mir ginge, müsstest du frieren.« Dann brachte er sie nach unten zum Wagen.
Durch die getönten Scheiben des Mercedes beobachtete Sita, wie die beiden Flügel des Tors aufschwangen. Als Dmitri aus dem Hof auf die Straße bog, fiel ihr ein junges Paar auf, das vom gegenüberliegenden Gehsteig zu ihnen herüberstarrte. Der Mann war groß und dunkelhaarig, und die Frau trug einen purpurroten Mantel. Während der Wagen langsam beschleunigte, wandte Sita sich um und beobachtete die beiden durch die Heckscheibe. Irgendetwas an dem Mann fesselte sie. Obwohl sie sicher war, dass er sie durch das dunkle Glas nicht erkennen konnte, kam es ihr vor, als sähe er ihr direkt in die Augen.
Auf einmal begann der Mann zu rennen. Gebannt sah Sita aus dem Fenster. Abrupt beschleunigte der Wagen, Dmitri hatte den Mann offenbar ebenfalls bemerkt. Sie erreichten das Ende der Straße und bogen mit vollem Schwung um die Ecke. Sita wurde gegen die Tür geschleudert, und sie verlor den Mann aus den Augen.
Als sie sich erneut umwandte, war nichts mehr von ihm zu sehen.
Einen Moment später warf Sita einen Blick in den Rückspiegel und ertappte Dmitri dabei, wie er sie mit finsterer Miene musterte. Dann zückte er sein Handy, rief jemanden an und sprach ein paar für Sita unverständliche Worte ins Telefon. Navins Besuch im Restaurant fiel ihr wieder ein, und ein freudiger Gedanke durchzuckte sie: Hatte der Mann womöglich nach ihr Ausschau gehalten? Sie durchforschte ihr Gedächtnis nach seinem Gesicht, konnte sich aber nicht daran erinnern, ihm schon einmal begegnet zu sein.
Auf dem Beifahrersitz plapperte Tante- ji die ganze Zeit davon, wie elegant und weltgewandt Dmitris Familie doch sei, während Onkel- ji hinter ihr gedankenverloren aus dem Fenster starrte, ohne etwas von der Verfolgung mitzubekommen, die so
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