Du bist in meiner Hand
weg.
»Wo bist du hin?«, fragte Sita.
»Ich hab mir eine Busfahrkarte nach New York City besorgt«, antwortete Elsie. »Kennst du die Sendung Top Model? «
Sita schüttelte den Kopf.
»Jedenfalls suchten die immer nach Talenten. Ich dachte mir, ich könnte da mal mein Glück versuchen. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann später, wenn ich Freunde gefunden hätte, die mir dabei helfen würden.« Elsie brauchte einen Moment, ehe sie weitersprechen konnte, und drückte Sitas Hand. »Da bin ich an Rudy geraten …«
Wie sich herausstellte, hatte besagter Rudy sie vor irgendeinem Laden in ein Gespräch verwickelt und ihr einen Modeljob in Aussicht gestellt. Sie war mit ihm in ein Lagerhaus gegangen, wo er sie vergewaltigt und dabei mit einer Videokamera gefilmt hatte. Hinterher erklärte er ihr, er werde das Video ihren Eltern schicken, wenn sie nicht tat, was er wollte. Rudy nahm sie mit in seine Wohnung, wo er sie noch etliche Male vergewaltigte. Als er schließlich genug von ihr hatte, verkaufte er sie an einen Mann, der mit ihr ein Stück weit fuhr und sie dann in einen Keller sperrte, in dem sich bereits drei andere Mädchen befanden. Spätabends kamen Männer in das Haus, um Sex mit ihnen zu haben.
Ein paar Wochen später wurden die Mädchen in ein anderes Bordell gebracht. Ab da schaffte man sie alle zwei Wochen an einen anderen Ort. Hin und wieder kamen neue Mädchen hinzu, und andere wurden ausgemustert. Manchmal zwang man sie auch, nackt für Fotos zu posieren und vor laufender Kamera Sex zu haben.
Schaudernd dachte Sita an Wasilys Büro. »Was haben sie denn mit den Aufnahmen gemacht?«
»Vermutlich ins Netz gestellt«, antwortete Elsie. »Mein Stiefvater hat sich dauernd solche Bilder angesehen, als ich noch klein war. Mir hat er sie auch gezeigt.«
Im Lauf des vergangenen Jahres war sie vom Netzwerk der Menschenhändler im ganzen östlichen Teil des Landes herumgereicht worden. Eine Pause war ihr nie vergönnt, nicht einmal, wenn sie krank war, und obwohl die Freier zwischen vierzig und hundertzwanzig Dollar für ihre Dienste zahlten, bekam sie von dem Geld nie etwas zu sehen. Es schien einen endlosen Nachschub an Freiern zu geben. Elsie gefiel ihnen, weil sie jung war und hübsche Augen hatte, zumindest sagten sie ihr das. In der Fernfahrerraststätte von Harrisburg war sie früher schon einmal zum Einsatz gekommen, auch wenn sie sich an das genaue Datum nicht erinnern konnte.
Sita fragte sie, wohin die beiden Männer sie denn diesmal brächten.
Elsie zuckte mit den Schultern. »Das weiß man vorher nie so genau.«
Sie fuhren stundenlang weiter und machten nur zum Tanken halt. Einmal hielten sie außerdem neben einer Wiese, damit die Mädchen pinkeln gehen konnten.
Elsie wollte nun auch Sitas Geschichte hören, woraufhin Sita ihr von dem Tsunami und ihrer ersten Reise von Indien nach Frankreich erzählte.
»Für eine Inderin sprichst du verdammt gut Englisch«, stellte Elsie fest.
»Wir lernen es in der Schule«, entgegnete Sita, »und zu Hause haben wir es auch geübt.«
»Warum sprecht ihr eigentlich nicht eure eigene Sprache?«
»Weil die ganze Welt Englisch spricht.«
Elsie nickte zustimmend. »Das liegt daran, dass Amerika das beste Land auf der Welt ist.«
Irgendwann spürte Sita, wie der Lieferwagen langsamer wurde und dann zum Stehen kam. Der Kettenraucher öffnete die Heckklappe. Der Himmel war grau und trüb. Sie befanden sich in einem heruntergekommenen Viertel, wo viele Gebäude leer standen. Auf der anderen Straßenseite sah Sita ein Schild mit der Aufschrift: »Vine City Market – Atlanta’s Best«.
Der Kettenraucher gab den Mädchen ein Zeichen auszusteigen. Als Sita Anstalten machte, ihnen zu folgen, hielt er sie mit einer Handbewegung zurück und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
Elsie sah sie an. »Bis bald mal wieder«, flüsterte sie.
Die beiden Männer fuhren mit Sita noch etwa eine Stunde weiter, ehe sie erneut anhielten. Sita hörte gedämpfte Gesprächsfetzen. Dann öffnete der Kettenraucher die Tür. Er stand auf einer von hohen Kiefern gesäumten Zufahrt. Neben ihm stand ein schwarz gekleideter Mann, den Sita nicht kannte. Der Mann hatte asiatische Gesichtszüge und dunkle Augen. Er nickte Sita flüchtig zu.
»Raus mit dir!«, sagte der Kettenraucher. »Von nun an ist Li für dich zuständig.«
Er half ihr aus dem Lieferwagen und übergab sie an den Asiaten. Der Mann, der Li hieß, führte sie die Zufahrt zu einem vornehm aussehenden Haus entlang.
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