Du bist in meiner Hand
sie die Stimmen wieder ganz deutlich hören. Dmitri: Wasily hat mit Dietrich eine Vereinbarung getroffen, bei der noch viel mehr für uns herausspringt. Igor: Alexi sagen, ich dich nicht anfassen. Dietrich kommen.
Sie beobachtete, wie Dietrich sich auf der Couch niederließ. In seiner Gegenwart trat an die Stelle ihrer dumpfen Angst vor zukünftigen Schrecken die lähmende Taubheit tiefster Verzweiflung.
Als Li neben sie trat und mit den Fingern schnippte, erwachte sie aus ihrer Trance.
»Gut«, sagte er und nahm sie am Arm. »Komm.«
Er führte sie zu einem Bett, das mit violetter Seide bezogen war, und forderte sie auf, sich darauf niederzulassen. Dann schaltete er einen Scheinwerfer an, der Sita so blendete, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Als Li wieder hinter dem grellen Licht hervortrat, hielt er eine Digitalkamera in der Hand.
»Nicht lächeln«, sagte er. »Hersehen.«
Während Li im Raum herumtanzte und Aufnahmen von ihr machte, ließ Sita ihn nicht aus den Augen. Er forderte sie auf, in unterschiedlichen Haltungen zu posieren: erst mit dem Rücken gegen die Kissen gelehnt, die Knie in der Luft, dann lang ausgestreckt auf dem Bauch. Einmal drückte er ihr einen Teddybären in die Hand, den er kurz darauf durch einen Lutscher ersetzte. Insgesamt dauerten die Aufnahmen eine halbe Stunde.
Als Li endlich zufrieden war, schaltete er den grellen Scheinwerfer wieder aus und legte Sita ein Baumwoll-T-Shirt und eine Jogginghose aufs Bett.
»Anziehen!«, befahl er.
Er nahm eine Zeitschrift vom Couchtisch und tat, als würde er sie gar nicht mehr beachten. Dietrich dagegen erhob sich und kam auf sie zu.
»Zieh die Sachen an, Sita«, sagte er. »Du hast keinen Grund, dich zu schämen.«
Sie verharrte noch einen Moment völlig reglos, ehe sie gehorchte. Li blätterte weiter durch seine Zeitschrift, aber Dietrich beobachtete jede ihrer Bewegungen. Während sie sich vor ihm auszog, empfand sie ein so starkes Gefühl von Scham, dass sie es kaum ertragen konnte. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle in Luft aufgelöst und diese schreckliche Welt weit hinter sich gelassen.
Als sie es endlich hinter sich gebracht hatte, streckte Dietrich die Hand aus und hob ihr Kinn leicht an.
»Du wirst dich bestimmt gut machen«, erklärte er.
Nachdem er noch einen vielsagenden Blick mit Li gewechselt hatte, verließ er den Raum. Sita jedoch stand wieder da wie angewurzelt. Es kam ihr vor, als hätte er sie mit seinen Blicken vergewaltigt.
Li warf die Zeitschrift zurück auf den Couchtisch und winkte Sita mit einer kleinen Handbewegung zu sich. Sie folgte ihm zu einer der anderen Türen, die von dem Gang abzweigten. Li öffnete sie und schaltete das Licht an. Der Raum hatte keine Fenster und war zweckmäßig ausgestattet. Die Einrichtung beschränkte sich auf ein Bett, einen Stapel Zeitschriften und einen Ständer mit einer Kombination aus Fernseher und Videorecorder.
»Badezimmer an Ende von Gang«, erklärte Li. »Benutzen, wenn Essen kommen. Filme und Seinfeld schauen.« Aus irgendeinem Grund fand er seine letzte Bemerkung lustig und lachte über seinen eigenen Scherz.
Nachdem er endlich gegangen war, setzte Sita sich aufs Bett. Während sie auf die Wand starrte, ließ sie die Fotoaufnahmen vor ihrem geistigen Augen noch einmal Revue passieren. Sie konnte sich an jedes einzelne Foto erinnern, das Li von ihr gemacht hatte, jede Haltung, die ihr Körper eingenommen hatte, jeden Schatten an der Wand. Obwohl weder Li noch Dietrich etwas Unanständiges von ihr verlangt hatten, war ihr klar, dass es einen Grund für diese Fotos gab. Schließlich hatte Dietrich auch nicht grundlos dreißigtausend Dollar für sie bezahlt. Alles an diesem schrecklichen Ort diente einem Zweck.
Während sie sich aufs Bett sinken ließ und die Augen schloss, musste sie an das kleine Figürchen in der Tasche ihres Mantels denken, der noch am Ende des Ganges im Fotostudio lag. Wie alles andere in ihrem Leben war ihr nun auch Hanuman genommen worden. Während ihre Atemzüge immer ruhiger wurden, glitt sie langsam in den Schlaf hinüber. Nach der unruhigen Nacht im Kellerverlies der fetten Frau und nach der langen Fahrt im Lieferwagen war sie so erschöpft, dass weder die unangenehme Erinnerung an die Fotoaufnahmen noch ihre Angst vor der Zukunft sie wach halten konnten.
Vierter Teil
29
Das Schwert der Gerechtigkeit hat keine Scheide.
ANTOINE DE RIVAROL
Goa – Indien
Eilig packte Thomas seine Taschen und verließ Agonda Beach. Priya
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