Du bist in meiner Hand
Befugnisse ein weiteres Mal überschritten, indem er Thomas den Vornamen von Abbys Mutter verraten und mit Detective Morgan vereinbart hatte, dass jemand von der Polizei in Fayetteville ihr den Brief persönlich überreichen würde.
Mit einem letzten Blick in Richtung des Grabes lenkte Thomas den Wagen zurück zum Tor. Im Vorbeifahren betrachtete er noch einmal die Engel, die über den Kindergräbern die stummen Lippen spitzten, um mit ihren steinernen Posaunen von einem Tag zu künden, an dem alle Tränen für immer versiegen würden. Für einen Moment tastete er nach dem Umschlag auf seinem Schoß und wünschte sich dabei von ganzem Herzen, dass dieser Tag tatsächlich irgendwann kommen würde.
Eine Woche später saß Thomas am Flughafen von Dulles, Virginia, und wartete darauf, in die Maschine zu steigen, die ihn am frühen Abend zurück nach Atlanta bringen sollte. Die vergangenen Tage hatte er damit verbracht, alles noch Anstehende zu erledigen und sich um den Schaden zu kümmern, der im Lauf des Winters durch einen Wasserrohrbruch in seinem Sandsteinhaus entstanden war: Auf dem Wohnzimmerboden hatte sich eine große Wasserlache gebildet, die allmählich in den Keller durchgesickert war. Der Albtraum hatte erst ein Ende gehabt, als der letzte Handwerker mit seinem Geld in der Hand das Haus verlassen hatte.
Thomas holte sein BlackBerry heraus und überprüfte seine Posteingänge. Dabei stieß er auf eine ganze Reihe von Werbemails sowie etliche Anfragen von Freunden, aber nichts von Priya. Seit zwei Wochen hatte sie keinerlei Versuch unternommen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er konnte es ihr nicht verübeln – sein Verhalten ihr gegenüber war einfach zu abscheulich gewesen. Trotzdem hatte ihr gemeinsames Wochenende ohne jeden Zweifel bewiesen, dass sie einander wirklich liebten. Reichte das denn nicht?
Durchs Fenster beobachtete er, wie die Wolken im Wind tanzten, und musste bei diesem Anblick an die Gedichte denken, die Priya ihm auf Goa aus ihrem kleinen Lyrikband – Elenas Weihnachtsgeschenk – vorgelesen hatte. Aus irgendeinem Impuls heraus war sie darauf verfallen, jedes Mal, wenn sie miteinander geschlafen hatten, eine kleine Lesung zu veranstalten. Anfangs hatte er die Augen verdreht, aber nachdem sie sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen ließ, war er irgendwann doch der magischen Melodie der Worte erlegen. Vielleicht lag es aber auch an der Tatsache, dass sie sich nackt auf dem Bett gerekelt hatte, während sie ihm die Gedichte vortrug. Beim Gedanken daran konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.
In dem Moment kam ihm eine Idee. Was, wenn er ein Gedicht für sie schrieb? Kein romantisches Liebesgedicht in der Tradition von Lord Byron, sondern ein paar Zeilen ehrlicher Lyrik im Stil von Naidu oder einem der Sufi-Mystiker, die sie immer zitierte. Er schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. Warum sollte ihr sein stümperhafter Versuch etwas bedeuten? Bestimmt würde sie in schallendes Gelächter ausbrechen, sobald sie zu lesen begann.
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm über seinem Kopf und verfolgte die Nachrichten. Als ihm das schließlich zu langweilig wurde, beobachtete er durchs Fenster, wie ein Flugzeug abhob. Die Maschine stieg in den Himmel empor und zog dabei eine Spur mitten durch die untergehende Sonne. Plötzlich hatte er ein paar Worte im Kopf. Wir wandern über die Sonne. Aus irgendeinem Grund faszinierte ihn dieses Bild. Was bedeutete das?
Er öffnete auf seinem BlackBerry ein Dokument und ließ seiner Fantasie freien Lauf. Schon bald wurden die Worte zu Verszeilen, und die Verszeilen zu einer Strophe. Überrascht sah er auf das Gedicht hinunter.
Wir wandern über die Sonne
Und unsere Schatten fallen
Auf das Ziffernblatt der Zeit
In Gestalt von Namen
Gesprochen vom Licht
Das uns gebiert.
Nachdem er die Datei gespeichert hatte, stand er auf und streckte sich ausgiebig. In zwanzig Minuten war es Zeit, an Bord zu gehen. Er nahm das Foto von Priya aus seiner Brieftasche und las erneut sein Gedicht. Es war nicht gerade Tagore, aber auch nicht ganz schlecht. Entschlossen schlug er alle Bedenken in den Wind, steckte das Foto zurück in seine Brieftasche und tippte dann, bis ihm die Daumen wehtaten. Nachdem er das letzte Wort geschrieben hatte, las er die ganze E-Mail noch einmal durch. Seine Nachricht lautete:
Liebe Priya,
ich wünschte, ich könnte dir das alles von Angesicht zu Angesicht sagen, aber da das nicht geht, bleibt mir nur dieser Weg, um
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