Du bist in meiner Hand
los.
»Du bist ja ganz nass!«, stellte sie fest, als sie sich schließlich von ihm löste. Sie deutete auf seine Haare. »Komm, ich mache dir eine Tasse Tee.« Mit diesen Worten zog sie ihn in Richtung Küche.
Während Elena um den Herd herumschwirrte, ließ sich Thomas auf einen Hocker nieder. Sein Vater nahm am Frühstückstisch Platz. Diese Rollenverteilung – seine Mutter um sein leibliches Wohl bemüht, sein Vater in Warteposition, bereit, ihm bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite zu stehen – war ihm so unendlich vertraut. Wie viele Male hatten sie so dagesessen, als er noch ein Junge war?
»Wie geht es Priya?«, fragte Elena über die Schulter. Er hatte ihr aus Paris eine E-Mail geschickt und in groben Zügen, aber mit recht optimistischem Grundtenor über seine Fortschritte berichtet. Doch das war vor Goa gewesen.
»Im Moment läuft es nicht so gut.«
Seine Mutter wirkte sehr betroffen, drang aber nicht weiter in ihn. »Das tut mir leid.«
Achselzuckend wandte er sich an seinen Vater. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich in die Kanzlei zurückgehe.«
Der Richter kniff die Augen zusammen. »Hast du meine Mail bekommen?«
Thomas nickte.
»Max hat vor, den roten Teppich für dich auszurollen. Er meint, du könntest vielleicht schon in einem Jahr Sozius werden.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt noch möchte«, erwiderte Thomas.
Seinem Vater hatte es die Sprache verschlagen, was höchst selten vorkam. Statt seiner meldete sich Elena zu Wort. »Was möchtest du denn, mein Lieber?«
Nervös umklammerte Thomas die Kante der Küchentheke. »Das versuche ich gerade erst herauszufinden.«
Der Richter erhob sich. »Ich kann gar nicht glauben, was ich da höre. Als Fünfzehnjähriger hast du mir erklärt, du wolltest unbedingt Richter werden. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um dir das zu ermöglichen. Ich habe dir ein erstklassiges Studium finanziert, dir ein Referendariat besorgt und bei Clayton meine Kontakte spielen lassen. Und nach alledem willst du plötzlich aussteigen? Einfach so?«
»Randolph …«, warf Elena ein, doch der Richter brachte sie mit einem wütenden Blick zum Schweigen.
»Ich hätte gern eine klare Antwort«, fuhr er fort. »Die steht mir zu, wie ich finde.«
Thomas holte tief Luft und sah seinem Vater in die Augen. »Ich weiß, was ich ursprünglich wollte, Dad, und mir ist auch durchaus klar, welche Opfer du dafür gebracht hast. Aber die Dinge können sich nun mal ändern. Wenn du eine Antwort willst, sollst du eine bekommen: Ich möchte mein Jahr bei CASE zu Ende machen und meine Frau irgendwie davon überzeugen, dass sie mit mir besser dran ist als ohne mich.«
Der Richter warf aufgebracht die Hände in die Luft. »Was du da sagst, betrifft doch nur ein Jahr deines Lebens, oder höchstens zwei! Was ist mit deiner Zukunft , Thomas? Was wird in zehn oder zwanzig Jahren sein? Wo wirst du dann stehen?«
Thomas spürte Wut in sich aufsteigen. »Keine Ahnung. Ich weiß nur eines ganz sicher: Ich will nicht mehr zurück ins Hamsterrad.«
»Na wunderbar! Jetzt vergleichst du mein Leben schon mit dem eines Nagetiers.«
Thomas funkelte ihn zornig an. »Es geht hier nicht um dich, Dad, sondern um mich. Möchtest du wissen, warum ich wieder in den Staaten bin? Weil ein Mädchen aus Indien hierher verkauft wurde. Ihre Schwester haben wir aus einem Bordell in Bombay befreit, wo man sie gegen ihren Willen festhielt. In ein paar Tagen wird Sita nach Hause fliegen, und ich werde sie begleiten. Ich stelle die Entscheidungen, die du in deinem Leben getroffen hast, keineswegs infrage. Ich sage nur, dass ich nicht das Gleiche will wie du.«
Er nahm einen Schluck von dem Tee, den seine Mutter vor ihn hingestellt hatte. Sein Vater wirkte plötzlich in Gedanken versunken. Thomas wusste, wie das Ganze ausgehen würde: Der Richter würde das Gespräch abrupt beenden und erst einmal ausgiebig über alles nachdenken, bis er zu einer Entscheidung gelangte. Diese würde er dann in Form eines ausschweifenden Monologs zum Besten geben, genau wie er es im Gerichtssaal zu tun pflegte.
Tatsächlich warf der Richter einen Blick auf die Uhr. »In einer Viertelstunde beginnt die Messe«, verkündete er, um einen ruhigen Ton bemüht. »Wir reden später weiter.«
Elena sah Thomas an. Ihr Blick wirkte entschuldigend, aber auch fragend. »Wie lange bleibst du?«, war alles, was sie sagte.
»Lange genug«, antwortete er. »Ich habe mich extra schick gemacht, damit ich mit euch in die
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