Du bist in meiner Hand
Mutter lächelten sich an. Es war sowohl Priyas als auch Thomas’ Lieblingsfoto von der Kleinen gewesen. Damals hatte ihre weiche Haut die roten Flecken der ersten zwei Monate bereits verloren. Ihre braunen Augen waren geöffnet, und sie sprühte vor Leben.
Inzwischen liefen Thomas die Tränen übers Gesicht, doch er wischte sie nicht weg. Er musste wieder an den schrecklichen Morgen im September denken, als sie sie gefunden hatten – an Priyas schrillen Schrei und daran, wie er die Treppe hinaufgestürmt war und Mohinis Körper fast gewaltsam aus den Armen ihrer Mutter befreien musste. Er erinnerte sich noch genau daran, wie eisig kalt sich das Gesicht der Kleinen angefühlt hatte und was für eine heftige Angst er empfunden hatte, als sie nicht auf seine Wiederbelebungsversuche reagierte. Noch immer konnte er hören, wie draußen mit heulender Sirene der Krankenwagen vorfuhr. Noch immer hatte er den Geruch nach Desinfektionsmitteln in der Nase, der in der Notaufnahme in der Luft hing. Er spürte auch noch seine Wut über die sterile Effizienz der Ärzte, die auf der Suche nach einer Erklärung, die sie niemals finden würden, an Mohinis winzigem Körper herumstocherten und -tasteten. Im Bericht des Gerichtsmediziners hatte dann SIDS gestanden – Sudden Infant Death Syndrome , auch plötzlicher Kindstod genannt. Mohini war im Schlaf gestorben. Ursache unbekannt.
Der diensthabende Arzt hatte ihnen gestattet, fünfzehn Minuten bei ihrem Baby zu bleiben, ehe er den kleinen Leichnam in die Pathologie schickte. Nachdem er sie in dem kahlen Raum allein gelassen hatte, nahm Priya das kleine Mädchen in den Arm und sang ihr auf Hindi etwas vor. Zu hören, wie seine Frau über dem Leichnam ihrer gemeinsamen Tochter im Flüsterton vor sich hin sang, ließ Thomas seinen Verlust nur noch schmerzhafter empfinden. Schließlich legte Priya Mohini auf ein weißes Tuch und küsste sie ein letztes Mal. Dann wandte sie sich ab und ging, ohne sich noch einmal umzublicken.
Thomas schloss die Schachtel mit den Fotos wieder. Nach einer Weile ging er die Treppe in den ersten Stock hinauf und öffnete die Tür zu Mohinis Zimmer. An der Wand stand das leere Kinderbett, über dem ein buntes Mobile reglos Wache hielt. Alles war noch genauso wie damals, als sie sie am Abend vor ihrem Tod schlafen gelegt hatten.
Er ging zu dem Bett hinüber und rieb über den hölzernen Rahmen. Er hatte es selbst gebaut. Dabei war es ihm nicht um das Geld gegangen, das er dadurch sparte, sondern um Priyas Meinung von ihm. Er wollte ihr beweisen, dass er dazu in der Lage war – und dass er es machen wollte und seine vielen Überstunden in der Kanzlei nicht bedeuteten, dass er sich nicht für das Baby interessierte. Er wusste noch genau, wie sie ihn angelächelt hatte, als er fertig war. An diesem Abend hatten sie das erste Mal seit Wochen wieder miteinander geschlafen. Ihr dicker Bauch störte dabei, aber sie schafften es trotzdem irgendwie. Thomas hatte es als reinigend empfunden, als einen Akt der Befreiung. Wie anders es doch mit Tera war. Jedes Mal, wenn er sie anfasste, kam es ihm vor, als würde sich die Schlinge um seinen Hals enger ziehen.
Er sank vor dem Kinderbett auf die Knie und legte die Stirn gegen die Holzlatten. In dieser flehenden Haltung sang er den Refrain von »You Are My Sunshine«, wie er ihn für Mohini an jedem Abend ihres Lebens gesungen hatte. Während er sang, begriff er, dass das Lied in Wirklichkeit ein Gebet war, eine Bitte an den Gott der Kinder, er möge ihnen Sicherheit und Frieden schenken. In Mohinis Fall war diese Bitte nicht erhört worden. Wieder traten ihm Tränen in die Augen. Flüsternd brachte er zum Ausdruck, was er seitdem unablässig empfand.
»Es tut mir leid, meine liebe Kleine. Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig gekommen bin. Ich wusste es doch nicht.«
Er verließ Mohinis Zimmer wieder und betrat sein Büro, wo er seinen Laptop hochfuhr. Er musste an die beiden Möglichkeiten denken, die Junger ihm zur Wahl gestellt hatte. Als Erstes suchte er im Internet nach einer Insel auf den Bahamas, über die er in einer Zeitschrift etwas gelesen hatte. Die Fotos sahen sehr vielversprechend aus: palmengesäumte Strände und funkelndes Wasser, das über weißen Sand schwappte. Er stellte sich vor, wie er mit einer Piña Colada in der Hand den Sonnenuntergang bewunderte. Dann versuchte er sich den Rest vorzustellen. Er wäre dort allein. Er konnte nicht den ganzen Tag lesen. Bestimmt würde ihm das
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