Du bist in meiner Hand
geantwortet hat? ›Man kümmert sich um das, was man vor Augen hat.‹ Dieses Prinzip lässt sich hier auch anwenden. Die Akademiker reden von Statistiken. Wir reden von persönlichen Schicksalen. Was gibt es Fesselnderes?«
Rachel ließ die Frage in der Luft hängen und warf einen Blick auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch. »Es ist schon Mittag, Jeff. Wir sollten wohl besser Schluss machen.«
»Schon Mittag?«, rief Greer überrascht aus und erhob sich. »Ich habe die Zeit ganz vergessen.« Nachdem er sich bei Rachel bedankt hatte, führte er Thomas zurück in den Gemeinschaftsbereich.
»So sieht also unsere Arbeit aus«, sagte er. »Die Hochglanzbilder auf den Broschüren sind nur ein Bruchteil dessen, was wir machen.« Er musterte Thomas prüfend. »Ich weiß, welchen Vertrag Sie unterschrieben haben. Aber ich muss eines sicher wissen – dass Sie der Typ Mensch sind, auf den ich mich verlassen kann. Falls die Gefahr besteht, dass Sie es sich doch noch anders überlegen, dann tun Sie das am besten gleich.«
Thomas blickte sich um. Die Leute räumten anlässlich des bevorstehenden Feiertags gerade ihre Schreibtische auf. Er fühlte sich von dem, was CASE ihm zu bieten hatte, zugleich angezogen und abgestoßen. Sein neuer Arbeitsplatz sprühte geradezu vor Kameradschaftsgeist und Herausforderungen, bot aber keine von den Privilegien des Anwaltsberufs, an die er sich bereits gewöhnt hatte. Die meisten der Clayton-Anwälte, die er kannte, hätten sich unter irgendeinem Vorwand schnell wieder aus dem Staub gemacht. Aber nun war er schon einmal hier und hatte ein Jahr totzuschlagen. Für ihn gab es kein Zurück.
»Ich bin dabei«, sagte er so ernsthaft wie möglich. »Am Montag fange ich an.«
Greer nickte. »Willkommen im Team.«
7
Gespeist von Millionen,
lodern ewig die Feuer der Natur.
GERARD MANLEY HOPKINS
Mumbai – Indien
Für Ahalya und Sita war die Gefangenschaft im Dachzimmer von Suchirs Bordell ebenso von Langeweile wie von Angst geprägt. Ihre Tage verliefen so eintönig, dass ihnen die Angst beinahe so etwas wie Erleichterung verschaffte, weil sie mit dem Kontakt zu anderen Menschen einherging. Allerdings war diese Erleichterung nur von kurzer Dauer: Jedes Mal, wenn die Treppe knarrte und der Türknauf sich drehte, wechselten die Schwestern einen angstvollen Blick.
Während der langen Tagesstunden, wenn in den Zimmern unter ihnen die Beshyas schliefen, aßen, plauderten oder stritten, tat Ahalya alles in ihrer Macht Stehende, damit ihre Schwester die Hoffnung nicht verlor. Sie erzählte Sita von der Vergangenheit – Geschichten über ihre Eltern oder Geschichten über das alte Indien, niedergeschrieben von weisen Männern. Geschichten waren Ahalyas einzige Waffe gegen die Verzweiflung, die sie beide immer wieder zu überwältigen drohte. Die Melodie ihrer Worte zauberte die Schwestern fort aus Golpitha , zumindest so lange, bis die Treppe wieder knarrte und der Türknauf sich ein weiteres Mal drehte.
Sitas Lieblingsgeschichten spielten im Haus am Meer. Sie wurde nie müde zuzuhören, wenn ihre Schwester den strengen Tonfall nachahmte, mit der ihre Mutter sie beide korrigiert hatte, sooft sie Grammatikfehler machten, oder ihnen befohlen hatte, ihr Zimmer aufzuräumen oder beim Zubereiten des Abendessens zu helfen. Oder den Tonfall ihres Vaters, wenn er ihnen etwas über das Meer, die Gezeiten und die Küstenflora beibrachte oder ihnen aus dem Ramayana vorlas.
Jeden Morgen zeichnete Ahalya auf Sitas Drängen hin am Fußende des Bettes eines von Jayas Kolam-Mustern nach. Sie benutzte dazu Reiskörner, die sie am Vortag jeweils von ihrer Abendmahlzeit abzweigten. Jaya hatte Blumenmotive und schützende Hindu-Zaubersymbole bevorzugt, von denen jedes für sie eine ganz persönliche Bedeutung besaß. Sita mochte die Blumenmuster am liebsten. Es kostete Ahalya viel Mühe, sie aus den Reiskörnern zusammen zusetzen.
Jeden Abend brachte ihnen Sumeera eine aus Dal, Reis und Chutney bestehende Mahlzeit. Sie bemerkte die Kolam-Muster, machte es den Mädchen aber nie zum Vorwurf, dass sie ihr Essen verschwendeten, wie Suchir oder sein junger Stellvertreter – den die Mädchen inzwischen als Prasad kannten – es wahrscheinlich getan hätten. Stattdessen blieb sie oft eine Weile bei ihnen im Zimmer und erzählte ihnen ihrerseits eine Geschichte.
Nachdem Sumeera wieder gegangen war, aßen die Schwestern ihr Dal und ließen nur die Reiskörner übrig, die sie für das Kolam-Muster des nächsten Tages
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