Du bist in meiner Hand
Müllhaufen saß.
Als Greer Thomas über die Schulter einen Blick zuwarf, bemerkte er dessen Notlage.
»Gehen Sie einfach weiter«, sagte er.
Schließlich winkte Greer ein anderes Taxi herbei und wies den Fahrer an, sie zum Hauptbahnhof von Mumbai zu bringen. Erleichtert ließ Thomas sich auf den Rücksitz sinken.
»Nun haben Sie gesehen, was die Ermittler sehen«, erklärte Greer. »Zumindest bei Tageslicht.«
»Man möchte gar nicht glauben, dass hinter diesen Mauern so viele Mädchen versteckt sind«, antwortete Thomas, der an die beiden Männer denken musste, die vermutlich Bordellbesitzer oder Zuhälter gewesen waren und dem Taxi- Walla solche Angst eingejagt hatten.
»Tausende«, erwiderte Greer, »und manche von ihnen sind gerade mal zwölf oder dreizehn.«
Am Bahnhof von Mumbai nahmen sie einen Zug in Richtung Norden. Mittags war das Gedränge nicht ganz so schlimm wie am Morgen. Thomas fand einen Platz dicht an der Tür, neben einem älteren Mann, und lehnte sich hinaus, um den Fahrtwind zu spüren. Der Zug fuhr landeinwärts, seine Ziele waren Parel und die zentralen Vorstädte. Nach einem Halt in Dadar streifte er den Randbereich von Dharavi – dem Stadtteil, der laut Greer der größte Slum von Bombay war – und durchquerte dann einen Mangrovensumpf, ehe er den Bahnhof Bandra erreichte.
Thomas folgte Greer eine Treppe hinauf und dann einen Fußgängerweg entlang, der oberhalb eines kleineren Slums verlief. Am Rand saßen Bettler mit flehendem Blick und streckten ihnen die offenen Hände entgegen. Manche von ihnen waren alt, andere jung. Zum Teil hatten sie Kinder dabei. Bei einigen handelte es sich um Invaliden, die ihre Krücken, verkrüppelten Gliedmaßen oder gar Amputationen zur Schau stellen. Obwohl Scharen von Pendlern an ihnen vorbeiströmten, schenkte ihnen niemand Beachtung. Thomas hatte Mitleid mit einem etwa zehnjährigen Mädchen, das ein Baby auf dem Arm trug, und drückte der Kleinen eine Fünfrupienmünze in die Hand. Dann folgte er Greer die Treppe auf die Straße hinunter.
Dort warteten die Fahrer mehrerer, im Pulk parkender Rikschas auf Kunden.
Ein junger Mann trat auf sie zu. »Wohin? Bandra? Juhu? Santa Cruz?«
»Pali Hill«, antwortete Greer.
Greer warf einen Blick zu Thomas hinüber. »Das Büro schließt zwar heute schon mittags, aber ich dachte mir, Sie könnten zumindest kurz vorbeischauen und die Kollegen kennenlernen.«
Mit diesen Worten stieg er in die Rikscha, und Thomas zwängte sich neben ihn. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen und reihte sich in den Verkehrsstrom ein.
Eine Weile genossen sie schweigend den warmen Fahrtwind. Zwar brannte die Mittagssonne auf sie herunter, aber die Winterluft war trocken und die Temperatur noch angenehm. Der Himmel leuchtete inzwischen in einem klareren Blau. Der Smog hatte sich zumindest teilweise verzogen.
Eine Viertelstunde später tippte Greer dem Rikscha-Fahrer auf die Schulter und sagte: »Bas. Bas.«
Der Fahrer hielt am Straßenrand, und Greer bezahlte das Fahrgeld abzüglich einer Rupie. Das sei in Mumbai so üblich, eröffnete er Thomas ohne weitere Erklärung. Die Gegend, in der sie sich gerade befanden, lag nur ein paar Häuserblocks vom Einkaufsbezirk an der Linking Road entfernt und wurde teils als Wohngegend, teils gewerblich genutzt. Das Büro von CASE war in einem unauffälligen Gebäude untergebracht. Keinerlei Schild wies darauf hin, dass die Organisation hier ihre Räume hatte.
Greer führte Thomas eine Treppe zu einer ebenfalls unbeschilderten Tür hinauf, die mit einem Tastenkombinationsschloss versehen war. Hinter der Tür befand sich eine moderne, klimatisierte Büroetage. Greer erzählte Thomas, dass in Mumbai neunundzwanzig Leute für CASE arbeiteten. Etwa ein Drittel seien Kurzzeitpraktikanten aus den Vereinigten Staaten, Australien und Großbritannien. Zwei der Vollzeitkräfte kämen aus dem Westen, der Rest seien Inder aus dem ganzen Subkontinent. Thomas war sofort beeindruckt vom Engagement der CASE -Mitarbeiter. Selbst an Silvester sprühte das ganze Büro vor Aktivität.
Greer wollte Thomas den leitenden Angestellten vorstellen. Die juristische Leiterin, Samantha Penderhook, war eine zierliche, blonde Frau aus Chicago, die bereits auf den ersten Blick Intelligenz und Tüchtigkeit ausstrahlte. Nachdem sie Thomas die Hand geschüttelt hatte, forderte sie ihn auf, Platz zu nehmen.
»Bestimmt hat Ihnen Jeff recht deutlich geschildert, was wir hier tun«, begann sie, »aber ich will es noch
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