Du bist in meiner Hand
selbst.
DSCHALAL AD-DIN AR-RUMI
Mumbai – Indien
Thomas begriff bereits in den ersten Tagen bei CASE , dass die Arbeit für die Organisation Lichtjahre vom Klischee eines gemeinnützigen Jobs entfernt war – oder zumindest von dem, was er und seine Kollegen bei Clayton sich darunter vorgestellt hatten. Die Arbeitszeiten waren lang, die professionellen Maßstäbe hoch und die Fälle intellektuell anspruchsvoll. Hinzu kam, dass die Arbeit durchaus Gefahren mit sich brachte. CASE hatte in Bombay wenig Freunde, dafür aber zahlreiche mächtige Feinde. Etliche von den Festangestellten waren schon mal von einem Zuhälter oder Menschenhändler bedroht oder angepöbelt worden, einige sogar mehrfach.
In vielerlei Hinsicht unterschied sich das Leben in der Rechtsabteilung von CASE kaum vom Leben in den Schützengräben von Clayton. Allerdings endeten die Ähnlichkeiten dort, wo die eigentliche juristische Arbeit anfing. Die Besonderheiten des indischen Rechtssystems waren Thomas größtenteils fremd, und im juristischen Fachjargon Indiens wimmelte es nur so von seltsamen Phrasen und veralteter Terminologie, die noch aus den Tagen des Raj stammte. Thomas hatte immer einen Stift griffbereit und machte sich jede Menge Notizen, die ihn in der Regel aber mehr verwirrten als ihm weiterhalfen.
Einen großen Fortschritt in seiner Einarbeitung erzielte er, als Samantha Penderhook ihn bat, die Akten zu einem Prozess durchzusehen, die einer von den indischen CASE -Anwälten angelegt hatte. Bei dem Fall ging es um einen Zuhälter, der im Slum Jogeshwari ein Bordell betrieben hatte. Ein Freund von ihm verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Mädchen, die er aus ihren Heimatdörfern ganz im Norden Indiens lockte, indem er ihnen vorgaukelte, er werde ihnen in Bombay Stellen als Kellnerinnen und Kindermädchen verschaffen. Der Zuhälter hatte fünf Mädchen für sich arbeiten lassen, als die Polizei, unterstützt durch CASE , sein Geschäft dichtmachte. Alle fünf waren minderjährig, zwei von ihnen gerade mal dreizehn. Obwohl erdrückende Beweise gegen den Mann vorlagen, zog sich der Prozess mittlerweile seit vier Jahren hin, und der Zuhälter befand sich immer noch auf freiem Fuß.
Der Jogeshwari-Fall beleuchtete anschaulich die problematische Justiz von Bombay. Der Zuhälter hatte seine Vergehen der Polizei gegenüber gestanden, aber das Geständnis wurde als Beweismittel vor Gericht nicht anerkannt, weil die Polizei grundsätzlich als korrupt galt. Außerdem hatten die zuständigen Beamten in diesem Fall den ersten, gleich am Tatort aufgenommenen Bericht vermasselt. Dieser erste Bericht widersprach der Aussage des Pancha – des neutralen Zeugen, der zugegen sein musste – und lieferte dem Anwalt des Zuhälters eine Steilvorlage, um die Glaubwürdigkeit des ersten Polizeiberichts und der ermittelnden Beamten infrage zu stellen.
Darüber hinaus war der Prozess auch in jeder anderen Hinsicht ein Paradebeispiel für Ineffizienz. Zwar wurden die Opfer immerhin schon sechs Monate nach der Razzia vor Gericht zitiert, um ihre Aussagen zu machen, aber der Staatsanwalt musste mehr als zwei Jahre warten, bis er den Zuhälter ins Kreuzverhör nehmen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnten sich weder der Richter noch die Anwälte genau an das erinnern, was die Opfer gesagt hatten. Die einzigen Aufzeichnungen über die Aussagen der Opfer waren sogenannte »Ablagen« in Kurzschrift, die eine Schreibkraft des Richters auf ihrem alten Computer getippt hatte. Bedauerlicherweise widersprachen diese »Ablagen« bezüglich der Zeugenaussagen den Notizen, die sich der CASE -Anwalt während der Verhandlung gemacht hatte.
Außerdem war da noch das Problem der Sprachbarriere. Die Mädchen stammten aus der Gegend von Uttar Pradesh nahe der Grenze zu Nepal und sprachen eine Sprache, die Awadhi genannt wurde. CASE brauchte zwei Monate, um einen Awadhi-Dolmetscher aufzutreiben. Als die Mädchen schließlich vereidigt wurden, gab der Dolmetscher zu, schwerhörig zu sein. Obwohl er direkt neben den Mädchen stand, unterbrach er sie ständig mit der Bitte, ihre Worte zu wiederholen.
Der Jogeshwari-Fall war eine komplette Katastrophe. Nachdem Thomas die Unterlagen studiert hatte, ging er in Samanthas Büro. Obwohl sie gerade telefonierte, winkte sie ihn herein.
Sobald sie aufgelegt hatte, hielt er die Akte hoch. »Soll das ein Witz sein?«
Sie lächelte. »Ganz und gar nicht. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass die juristische Arbeit in
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