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Du bist in meiner Hand

Du bist in meiner Hand

Titel: Du bist in meiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corban Addison
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wütend auf sich selbst.
    Gegen Mitternacht stand einer von Dineshs Freunden abrupt auf. Den ganzen Abend über hatte er einer bestimmten Tänzerin immer wieder Fünfhundertrupienscheine zugesteckt. Nun sah er das Mädchen an und nickte dann einem in der Nähe stehenden Kellner zu. Nachdem er sich per Handschlag von Dinesh verabschiedet hatte, steuerte er auf den Ausgang zu. Das Mädchen verließ währenddessen die Tanzfläche und verschwand im hinteren Teil des Clubs.
    »Wo will er hin?«, schrie Thomas Dinesh ins Ohr.
    Sein Freund breitete die Hände aus, als wüsste er es nicht, aber Thomas ging plötzlich ein Licht auf. Er lehnte sich zurück und betrachtete Dinesh. Sein Freund war hin und weg von einem großen Mädchen mit langen Wimpern. Er hatte ihr im Lauf des Abends mindestens dreitausend Rupien gegeben, und sie hatte mehrmals für ihn getanzt. Im Moment stand sie wieder zwischen den anderen Tänzerinnen und wiegte sich zu einem Song, der Thomas irgendwie bekannt vorkam. Dinesh griff in seine Brieftasche, zog acht Fünfhundertrupienscheine heraus und hielt sie ihr hin wie ein Falkner, der seinen hochgeschätzten Vogel aus der Luft holen will.
    Die Augen der jungen Frau leuchteten auf. Geschmeidig glitt sie quer durch den Raum auf ihn zu. Ihr Blick war unverwandt auf Dinesh gerichtet, während sie sich langsam zu bewegen begann: erst die Hände, dann die Arme, dann die Schultern. Mit der Zeit verlagerten sich die Bewegungen von ihren Extremitäten immer mehr ins Zentrum ihres Körpers, wo sie schließlich sehr intensiv wurden. Während Thomas das Schauspiel beobachtete, begriff er, was ihm bis dahin entgangen war: Vor seinen Augen vollzog sich ein Ritual, das so alt war wie die Zeit selbst.
    Sein Freund wandte sich ihm zu. »Findest du allein nach Hause?«, rief er über die Musik und das Stimmengewirr hinweg.
    Thomas sah ihm in die Augen und nickte.
    »Wir sehen uns morgen früh«, erklärte Dinesh. Mit diesen Worten erhob er sich. Der Kellner führte ihn zur Tür, während die Tänzerin sich gleichzeitig in den hinteren Teil des Clubs zurückzog.
    Thomas, der ihnen nachblickte, wusste genau, wie es weiterging. Dinesh und die junge Frau würden sich kurz darauf draußen auf der Straße treffen, ein Taxi herbeirufen und zu einem Hotel irgendwo in der Stadt fahren. In der Abgeschiedenheit ihres Zimmers würde Dinesh seiner Leidenschaft freien Lauf lassen. Hinterher würde sie sein Geld nehmen und verschwinden. Eine weitere Nacht, ein weiterer Freier. Mit dem Geld würde sie etwas zu essen für ihre Kinder kaufen oder sich in der Linking Road ein neues Outfit gönnen. Am nächsten Abend würde sie wieder tanzen.
    Thomas trank sein Bier aus und legte dem Kellner hundert Rupien Trinkgeld hin. Nachdem er sich von Dineshs verbliebenen Freunden verabschiedet hatte, verließ er das White Orchid mit einem Gefühl von Selbstekel. Er fragte sich, was die Leute von CASE darüber denken würden, dass er ein solches Etablissement besuchte. Er fragte sich auch, wie Priya das wohl sähe oder ob es sie überhaupt interessieren würde.
    Er winkte eine Rikscha heran und nannte dem Fahrer Dineshs Adresse. Während er das ohrenbetäubende Geknattere des Motors ausblendete, zog er erneut den Rat seiner Mutter in Betracht. Vergangene Woche war er zweimal knapp davor gewesen, Priyas Nummer zu wählen, hatte sich dann aber doch nicht getraut. Wie war es möglich, dass die Vorstellung, ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, ihn so in Panik versetzte?
    Um sich abzulenken, zog er sein BlackBerry heraus und sah nach, ob neue Mails eingegangen waren. An diesem Morgen hatte er seiner Mutter geschrieben, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen – sie neigte seit jeher dazu, sich zu viele Sorgen zu machen – und seinem Vater zu versichern, dass eine Woche Indien nichts an seinen langfristigen Zielen geändert habe. Elena hatte auf seine Mail geantwortet:
    Thomas, ich bin froh, dass mit dir alles in Ordnung ist. Dein Vater frönt einer neuen Leidenschaft. Seit du fort bist, informiert er sich rund um die Uhr über Zwangsprostitution und Menschenhandel. Gerade hat der Postbote ein Bücherpaket für ihn gebracht. Mir wäre ein angenehmeres Gesprächsthema am Esstisch lieber, aber ich darf mich nicht beklagen. Ich bin froh, dass er kein abgestumpfter Mann ist. Bitte melde dich regelmäßig und komm bald zurück nach Hause.
    Ihre Worte entlockten Thomas ein Schmunzeln. Er ging die Liste seiner ungelesenen Posteingänge weiter durch.

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