Du bist in meiner Hand
Mumbai Sie in den Wahnsinn treiben wird.«
Thomas machte seiner Empörung Luft: »Vor vier Jahren hat der betreffende Zuhälter diese Mädchen an seine Freunde im Slum verkauft, und heute argumentiert sein Anwalt, dass der Mann freigesprochen werden sollte, weil die Polizei nicht in der Lage war, in ihrem ersten Bericht auch nur einen einzigen verständlichen Satz zu formulieren, und der Dolmetscher die Aussage der Mädchen nicht hören konnte und das Geständnis des Zuhälters angeblich auf unzulässige Weise von der Polizei beeinflusst wurde, obwohl fünf Zeugen und zwei Panchas vor Ort waren, die bestätigen, dass der Kerl alles zugegeben hat. Was für eine Art Zirkus ziehen diese Leute da eigentlich ab?«
»Es ist in der Tat ein Zirkus«, räumte Samantha ein. »Genau deswegen erzielen wir ja so wenig Verurteilungen. Selbst wenn die Beweise absolut wasserdicht sind, macht sich entweder der Täter aus dem Staub oder die Opfer verweigern die Aussage oder der Anwalt veranstaltet irgendeine Mauschelei mit dem Richter und zögert den Prozess so lange hinaus, bis die Akten Schimmel ansetzen.«
»Wenn das ganze System am Ende ist, warum machen wir das alles dann überhaupt?«
Samantha deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Setzen Sie sich.«
Nachdem er ihrer Aufforderung nachgekommen war, fuhr sie fort: »Bestimmt haben Sie schon mal die alte Maxime von Edmund Burke gehört, wonach das Böse überall dort triumphiert, wo die Guten nichts dagegen unternehmen. Das ist ein schöner, abgedroschener Spruch von der Sorte, mit der Politiker im Wahlkampf gern um sich werfen oder Aktivisten ihre Autoaufkleber bedrucken. Trotzdem hatte Burke recht. Mumbai ist eine korrupte Hölle, weil die Leute ihren Hintern nicht hochbekamen und zuließen, dass es so schlimm wurde. Als CASE damals diese Zweigstelle eröffnete, prophezeiten uns alle, wir würden spätestens nach einem Jahr wieder schließen.«
Sie legte eine Pause ein und machte eine ausladende Handbewegung.
»Tja, wir sind immer noch hier und haben weiß Gott etwas bewirkt. Die Zuhälter fürchten uns. Polizeibeamte überlegen es sich mittlerweile zweimal, ob sie Bestechungsgelder annehmen oder nicht. Mädchen, die vorher in Käfige gesperrt waren und fünfzehnmal am Tag vergewaltigt wurden, erholen sich allmählich, nachdem wir gute Plätze für sie gefunden haben. Es ist nur ein kleiner Erfolg, aber immerhin ein Anfang. Die Frage, die Sie sich stellen müssen, lautet: Wollen Sie daran teilhaben?«
Sie lehnte sich vor und legte die Hände auf die Tischplatte. »Ich schätze mal, Jeff hat Ihnen seine übliche Rede darüber gehalten, dass Sie Ihr Praktikum bis zum Schluss durchziehen müssen. Das macht er bei jedem. Aber dies hier ist meine Abteilung. Wenn Sie einen Punkt erreichen, an dem Sie aussteigen wollen, kann ich mich also jederzeit mit der Zentrale in Verbindung setzen. Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, dass Sie nicht bezahlt werden.«
Samantha hatte ihre letzte Bemerkung als Witz gemeint, aber Thomas verzog trotzdem das Gesicht. Sie konnte ja nicht wissen, dass er, wären da nicht dieser Waschlappen Mark Blake und die Drohung von Wharton Coal gewesen, längst schon wieder in Washington säße, wo er für seine Arbeit dreihundertfünfundzwanzig Dollar die Stunde berechnen könnte. Obwohl er das Engagement von CASE höchst lobenswert fand, hatte er sich nicht aus moralischen Gründen für dieses Praktikum gemeldet. Insofern unterschied er sich von den anderen Freiwilligen. Sosehr ihn die Welt des Menschenhandels auch anwiderte, wollte er doch Karriere machen, und sein erklärtes Ziel war eine Stelle als Richter. Er blieb hier nur deswegen bei der Stange, weil es der einzige Weg war, um hinterher von seiner Kanzlei wieder in Gnaden aufgenommen zu werden.
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen«, erklärte er, während er aufstand, »ich bin mit im Boot.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Samantha grinste. »Hier haben Sie Ihren Härtetest. Verschaffen Sie dem Jogeshwari-Fall neuen Auftrieb. Argumentieren Sie so fesselnd und zwingend, dass der Richter es gar nicht mehr erwarten kann, den Mistkerl ins Gefängnis an der Arthur Road zu schicken.«
Am Samstagabend lud Dinesh Thomas ein, mit ein paar von seinen Freunden in Bandra essen zu gehen. Besagte Freunde waren alle solo, lauter Schreibtischhengste, die in Großbritannien studiert hatten. Sie aßen auf der Veranda des Soul Fry, einem angesagten Szenetreff, wo traditionelle Küche
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