Du bist in meiner Hand
verursachte der abschätzende Ausdruck seiner Augen Ahalya eine Gänsehaut. Sie musste daran denken, was Prasad gesagt hatte. Sita ist etwas Besonderes. Suchir wird sie bald zureiten.
Schließlich sagte der Bordellbesitzer doch etwas. »Komm mit«, befahl er Sita.
In ihrer Verzweiflung stand Ahalya auf. Sie hoffte, ihn umstimmen zu können. »Nehmen Sie mich. Lassen Sie sie in Ruhe.«
Suchir wandte sich mit gerunzelter Stirn an Ahalya. »Du bleibst hier!«, fuhr er sie in barschem Ton an. Dann packte er Sita am Arm. Sita warf ihrer Schwester einen angstvollen Blick zu, ehe sie Suchir die Treppe hinunterfolgte.
Das Klicken, mit dem die Tür ins Schloss fiel, klang für Ahalya wie ein Schuss. Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Schlagartig bekam sie einen ganz heißen Kopf und hatte das Gefühl, als rückten die Wände um sie herum immer näher. Die Vorstellung, dass ihre Schwester gleich unter einem Mann liegen würde, der seine Lust an ihr befriedigte, machte ihre kläglichen Versuche, sich in der Kunst der inneren Distanz zu üben, schlagartig zunichte. Während sie kurz vor einem Zusammenbruch stand, fragte sie sich, woher sie die Kraft nehmen sollte, Sita hinterher zu trösten.
Suchir führte Sita an einer Gruppe plaudernder Beshyas vorbei und trat dann mit ihr hinaus in den Empfangsbereich des Bordells. Am Sonntag lief das Geschäft schlecht. Die Männer waren zu Hause bei ihren Familien und sahen sich im Fernsehen Fußball- oder Cricketspiele an oder schliefen mit ihren Ehefrauen.
Auf Suchirs Anweisung hin stellte sich Sita unter die gleißenden Deckenstrahler, wobei sie die Handflächen fest aneinanderpresste, um nicht so zu zittern. Auf der Couch saß ein Mann Mitte dreißig. Seine Kleidung wirkte teuer, und an seinem Handgelenk funkelte eine silberne Uhr. Obwohl er Sita unverhohlen musterte, erhob sich der Mann nicht von seinem Platz.
»Suchir sagt, du bist Vollwaise«, sprach er sie auf Hindi an. »Stimmt es, dass du keine Familie mehr hast?«
Sita nickte verwirrt.
»Ihm zufolge bist du außerdem gesund und nicht schwanger.«
Sie nickte erneut.
Als der Mann sich daraufhin an Suchir wandte, wechselten die beiden ein paar Worte in einer Sprache, die Sita nicht verstand. Schließlich nickte der Mann und schüttelte Suchir die Hand. Mit einem letzten Blick auf Sita verließ er das Bordell. Während des gesamten Wortwechsels hatte er keinerlei Versuch unternommen, sich ihr zu nähern.
Sita fühlte sich unendlich erleichtert, war zugleich aber auch beunruhigt. Sowohl das Verhalten das Mannes als auch das von Suchir stellte sie vor ein Rätsel. Sie musste an den Silvesterabend denken, als Shankar Ahalyas Jungfräulichkeit gekauft hatte. Sumeera hatte sie beide in die feinsten Saris gekleidet und sie mit Armreifen, Fußkettchen und Blumenkränzen geschmückt. Ihre schöne Aufmachung war ein Anreiz für den Käufer gewesen, ein Lockmittel, um an sein Geld zu kommen. Dieses Mal aber hatte Suchir sie mitgenommen, wie sie war.
Sita folgte Suchir über die feuchte Holztreppe hinauf ins Dachzimmer. Als sie in den Raum trat und ihre weinende Schwester sah, eilte sie sofort zu ihr und schlang die Arme um sie. Obwohl ihr selbst kein Leid geschehen war, brach sie ebenfalls in Tränen aus.
Nach einer Weile löste sich Sita von Ahalya und beantwortete deren unausgesprochene Frage. »Es ist nichts passiert«, flüsterte sie. »Da war ein Mann, aber er hat mich nicht angerührt.«
»Hat er etwas zu dir gesagt?«
»Er wollte wissen, ob ich wirklich keine Familie mehr habe und ob ich schwanger bin.«
»Und Suchir, was hat der gesagt?«
»Das konnte ich nicht verstehen. Sie haben nicht Hindi gesprochen.«
Plötzlich schlang Ahalya ihrerseits die Arme um Sita und zog sie fest an sich. »Rama hat auf dich aufgepasst, kleine Blume«, erklärte sie. »Er hat dich vor Schaden bewahrt.«
»Das war nicht Rama«, korrigierte Sita sie, »sondern Baba . Er hat versprochen, mich immer zu beschützen.«
Sita schloss die Augen und stellte sich das Gesicht ihres Vaters vor: das energische Kinn, das grau melierte, sich bereits lichtende Haar und die golden gesprenkelten Augen voller Weisheit und Güte. Er hatte ihr dieses Versprechen gegeben, als sie fünf Jahre alt war, und sie hatte nie an seinen Worten gezweifelt.
»Du hast recht«, pflichtete Ahalya ihr bei, während sie ihr übers Haar streichelte. »Es war Baba .«
8
Wenn du den Teufel noch nicht gesehen hast,
wirf einen Blick auf dich
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