Du bist in meiner Hand
gemacht?«
Sumeera ließ für einen Moment den Blick durch den Raum schweifen und sah dann wieder Ahalya an. »Sie ist weg«, antwortete sie lapidar.
Ahalya schüttelte den Kopf, als versuchte sie sich gegen die Wahrheit zu wehren. »Nein, du irrst dich! Suchir hat sie erst vor einer Stunde abgeholt. Er wollte sie zu einem Kunden bringen.«
Sumeera senkte nur wortlos den Kopf.
Ein unbeschreibliches Entsetzen ergriff von Ahalya Besitz. Sie fiel auf die Knie und begann sich wie in Trance vor und zurück zu wiegen. Tränen liefen ihr über die Wangen und sammelten sich an ihrem Kinn. Verzweifelt klammerte sie sich an Sumeeras Sari.
»Wo ist sie hin?«, flehte sie schluchzend, bekam von der Gharwali jedoch keine Antwort. »Wie konntest du das zulassen?«, weinte sie. »Hast du denn gar keine Seele?«
Sanft löste Sumeera die Finger des Mädchens aus dem Stoff ihres Sari. Dann kniete sie sich neben Ahalya und sah ihr direkt in die Augen.
»So ist das nun mal in Golpitha «, sagte sie leise.
Zweiter Teil
10
In der Dunkelheit der Nacht leben jene,
für die allein die äußere Welt real ist.
ISHA-UPANISHAD
Mumbai – Indien
Vierzig Minuten vor der Razzia hatte Suchir Sita in den Empfangsbereich des Bordells geführt, wo er einen Mann begrüßte, der dort auf der Couch saß. Sita erkannte den Mann sofort. Es war derselbe wie am Vorabend, nur dass er diesmal eine Sporttasche neben sich stehen hatte. Der Mann erhob sich, griff nach der Tasche und nickte Suchir zu.
»Einen Lakh jetzt«, erklärte er, »und den Rest, nachdem das Mädchen seinen Job gemacht hat, wie üblich.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Du kannst es nachzählen, wenn du willst.«
»Nicht nötig. Du genießt mein volles Vertrauen, Navin.«
Mit einem erneuten Nicken griff Navin nach Sitas Hand. »Zeit zu gehen, Sita«, sagte er auf Hindi zu ihr. Dabei sprach er ihren Namen so vertraulich aus, als wäre er ihr Cousin.
Sita sah ihn einen Moment fassungslos an und entzog ihm dann ihre Hand. »Ich kann meine Schwester nicht verlassen«, erwiderte sie panisch. »Bitte trennen Sie mich nicht von ihr!«
Navin wechselte einen raschen Blick mit Suchir, ehe er sich wieder Sita zuwandte. »Vielleicht nehme ich nächstes Mal deine Schwester, aber heute bist du an der Reihe. Wenn du dich fügst, wirst du ein leichtes Leben haben. Keinen Zuhälter, keinen Sex mit fremden Männern. Aber wenn du dich widersetzt, wirst du es bereuen.«
Er nahm sie wieder an der Hand und zog sie die Treppe hinunter, hinaus auf die staubige, in Dunkelheit gehüllte Straße. Am Randstein wartete ein schwarzer Geländewagen. Navin öffnete die hintere Tür und bedeutete Sita einzusteigen, doch sie schüttelte den Kopf. Aus ihrem Blick sprach blanke Panik. Seufzend packte er sie an den Schultern und schob sie hinein.
Am Steuer saß ein großer, beleibter Mann, der ihr jedoch keinerlei Beachtung schenkte. Navin ließ sich neben dem Mann auf den Beifahrersitz sinken und wies ihn an: »Nach Navi Mumbai. George hat gesagt, um zehn. Sieh zu, dass wir nicht zu spät kommen.«
Mit einem zustimmenden Grunzen gab der Fahrer Gas. Eine ganze Weile ging es in schnellem Tempo dahin, bis sie schließlich auf einer langen Brücke eine Bucht überquerten und dann in einen anderen Teil der riesigen Großstadt hineinfuhren. An irgendeiner Straßenecke, eingebettet in ein Gewirr aus schmalen Gassen, hielt der Fahrer an. Navin griff nach seiner Sporttasche und stieg aus. Durchs Fenster sah Sita, dass im Schatten der Gebäude ein schlaksiger Schwarzer stand, der ein mit Stoff umwickeltes Päckchen in der Hand hielt. Navin ging zu dem Mann hinüber und sprach kurz mit ihm. Dann reichte er ihm die Sporttasche, nahm im Austausch das Päckchen entgegen und kehrte damit in den Wagen zurück.
Er warf einen Blick nach hinten zu Sita, die still vor sich hin weinte. »Warum heulst du?«, fragte er verärgert.
Sita schloss die Augen, weil sie nicht wagte, ihn anzusehen. Ihr wurde immer banger zumute. Wer war dieser Mann? Warum hatte er sie von Ahalya weggebracht?
»Bitte lassen Sie mich zurück zu meiner Schwester!«, flehte sie. »Bitte!«
Navin schüttelte den Kopf und murmelte einen leisen Fluch. »Bring mich nach Hause«, wandte er sich an den Fahrer. Mit einem erneuten Grunzen fädelte der beleibte Mann wieder in den Verkehr ein.
Sita verschränkte fest die Arme vor der Brust, um in ihrer Verzweiflung nicht laut loszuschluchzen. Sie starrte zu den Lichtern der Stadt hinaus, die
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